Verloren: House of Night 10 (German Edition)
spürte die sanfte Güte, die im Gefolge der Göttin die Luft erfüllte. So war es schon immer gewesen. Wohin auch Nyx ihre unsterbliche Präsenz lenkte, da folgten Zauber und Herrlichkeit, Licht und Lachen, Frohsinn und Liebe. Unvergängliche, ewige Liebe.
Kalona senkte den Kopf. Wie sehr ich sie vermisst habe!
»Kalona, geh mit Nyx’ Segen!«
Der Strudel aus Energie, der sich auf Thanatos’ Ruf hin gebildet hatte, umtoste sie beide. Kalona hob den Kopf. Die Hohepriesterin lächelte ihn voller Güte an.
»Nyx hat Euch gehört«, sagte er, dankbar darüber, dass seine Stimme nicht wie sein Inneres zitterte.
»In der Tat«, sagte Thanatos. »Und das ist wahrlich ein gutes Omen.«
»Ich werde weder Euch noch die Göttin enttäuschen.« Und er nahm Anlauf, stieß sich ab und stieg in die Lüfte auf. Diesmal nicht, dachte er. Nein, diesmal enttäusche ich sie nicht.
Er flog rasch und ohne Umwege. Die Dachterrasse des Mayo war groß und hochgelegen. Fast lautlos ließ er sich aus dem pflaumenblauen Himmel auf den kalten Steinboden fallen. Er faltete seine Rabenschwingen auf dem nackten Rücken. Ja, er war mit entblößter Brust zu ihr gekommen – so mochte sie ihn am liebsten.
»Göttin, dein Gefährte ist zurück!«, rief er, dankbar, dass die Glastür des Penthouse durch irgendetwas zerschmettert worden war. Das ersparte es ihm, sie aufbrechen zu müssen, falls sie ihn nicht wie erhofft willkommen hieß.
»Ich sehe keinen Gefährten, nur einen geflügelten Versager.« Ihre Stimme kam aus der schattigsten Ecke der Terrasse, weit entfernt vom Eingang zu ihren Räumlichkeiten.
Ruhig drehte er sich um, gab ihr Zeit, seine bloße Brust und seine mächtigen Flügel in Augenschein zu nehmen. Neferet war eine begehrliche Kreatur. Ohne Unterlass gelüstete es sie nach Männern, doch verschaffte es ihr noch mehr Befriedigung, Macht über sie auszuüben, als sich mit ihnen zu vergnügen. Nun, der weiße Stier konnte ihr Macht geben, aber ein Stier war kein Mann.
»Während der Äonen meiner Existenz habe ich in der Tat in manchen Dingen versagt. Ich habe Fehler gemacht. Der größte war, deine Seite zu verlassen, Göttin.« Kalonas Worte bargen die Wahrheit, doch die Göttin, die er im Sinn hatte, war nicht Neferet.
»Aha, jetzt nennst du mich also Göttin und kommst zu mir zurückgekrochen.«
Kalona tat zwei Schritte auf sie zu und ließ dabei seine Schwingen rascheln. »Sehe ich etwa aus, als kröche ich?«
Neferet neigte den Kopf. Sie hatte sich nicht aus den Schatten fortbewegt, und alles, was er von ihr sehen konnte, waren ihre smaragdenen Augen und der flammende Schimmer ihres Haars, als die Sonne hinter ihr ihren täglichen Weg begann.
»Nein«, sagte sie in gelangweiltem Ton. »Du flatterst.«
Kalona entfaltete seine Schwingen und breitete die Arme aus. Seine Bernsteinaugen begegneten ihrem eisigen grünen Blick, und er richtete seinen ganzen Willen auf sie. Neferet war noch nicht lange unsterblich. Sie war noch anfällig für seinen Zauber.
»Sieh noch einmal hin, Göttin. Betrachte deinen Gefährten.«
»Ich sehe dich. Du bist nicht so jung, wie ich dich in Erinnerung hatte.«
»Du vergisst, mit wem du sprichst!« Er versuchte, seinen Ton zu mäßigen, doch sie weckte seinen Zorn. Er hatte ganz vergessen, wie sehr er ihren kalten Sarkasmus verabscheute.
»Tue ich das?« Neferet glitt aus der schattigen Ecke heraus. » Du bist es doch, der zu mir kommt. Hast du tatsächlich geglaubt, ich würde dich mit offenen Armen empfangen?«
Die Sonne hatte sich über den fernen Horizont erhoben, und als Neferet auf ihn zukam, konnte er sie endlich richtig sehen. Die Veränderung an ihr war fortgeschritten. Sie war so schön wie eh und je, aber alles, was an ihr noch weich, sterblich, menschlich gewesen war, hatte sie abgestreift. Sie war wie eine herrliche, anmutige Statue, die zum Leben erweckt worden war, doch ohne Gewissen, ohne Seele. Kalt war sie schon immer gewesen, doch bislang hatte Neferet über die Fähigkeit verfügt, Güte und Liebe vorzutäuschen. Das war vorbei. Kalona fragte sich, ob er der Einzige war, der so klar erkannte, dass sie zu einem Gefäß des Bösen geworden war.
»Geglaubt nicht, aber gehofft, obgleich mir Gerüchte zu Ohren gekommen sind, mein Platz an deiner Seite sei von einem anderen eingenommen worden.« Er hoffte, sie würde das Entsetzen in seiner Stimme als Eifersucht missdeuten.
Neferets Lächeln war wie das einer Schlange. »Ja, ich habe etwas Größeres gefunden als
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