Verloren unter 100 Freunden
Leben. Oder mein Leben besteht aus meiner Arbeit. Wenn ich zwischen meinem Terminkalender, meinem Adressbuch, meiner Mailbox und den Textnachrichten hin und her springe, komme ich mir vor wie eine Herrscherin der Welt – alles geht so schnell. Ich bin eine Beschleunigungsmaschine. Ich hänge bis um zwei Uhr früh an meinem Blackberry. Ich schlafe nicht gut, aber ich kann trotzdem nicht alles bearbeiten, was man mir zuschickt.
Jetzt wird von mir erwartet, dass ich für die Arbeit einen Twitterfeed und einen Facebook-Auftritt über das Museum habe. Und einen Blog über Ereignisse im Museum soll ich betreiben. Das heißt, ich muss da überall anwesend sein. Ich leide unter einer Stimmbanderkrankung. Mir versagt immer wieder die Stimme. Aber nicht, weil ich zu viel rede. Ich tippe ja immer bloß, aber es hat ausgerechnet meine Stimme erwischt. Der Arzt sagt, das ist eine Nervensache.«
In Gesellschaft ihrer Programme fühlt Diane sich als »Herrscherin der Welt«. Trotzdem ist sie letztlich nur eine »Beschleunigungsmaschine«, die das erledigt, was das Netzwerk ihr an den Kopf wirft. Sie und ihr Mann haben beschlossen, in Urlaub zu fahren. Sie will ihren Kollegen sagen, dass sie dann für zwei Wochen nicht »im Netz
hängt«, verschiebt diese Ankündigung aber immer wieder. Diane weiß nicht, wie die anderen reagieren werden. Normalerweise ist es im Museum in Ordnung, Urlaub zu nehmen, aber nicht, dass man währenddessen nicht erreichbar ist. Urlaub heißt also nur, seine Arbeit irgendwo zu erledigen, wo es idyllisch ist. Tatsächlich sitzen in der Werbung für Geräte mit drahtlosem Netzwerkzugang regelmäßig ein gutaussehender Mann oder eine hübsche Frau am Strand. Auch an der Leine der Technologie sollen wir unseren Körper und sein Wohlbefinden nicht zu kurz kommen lassen, sondern uns zum Arbeiten irgendwo hin begeben, wo es schön ist. Einst musste man die Mobilgeräte in der Werbung zeigen. Inzwischen sind sie häufig stillschweigend vorhanden. Wir wissen, dass die Erfolgreichen immer online sind. Im Urlaub verlässt man seinen Wohnort, aber nicht sein Verantwortungsgebiet. In diese Welt fortwährender Kommunikation scheint Dianes Erkrankung hineinzupassen: Sie ist zu einer Kommunikationsmaschine geworden, aber sie hat keine eigene Stimme mehr.
Diane gesteht, dass sie ihren »Offline-Urlaub« gern in Paris verbringen würde, »aber in Paris hätte ich keine Ausrede, nicht erreichbar zu sein. Bei einem Hilfsprojekt mitzuarbeiten, das am Amazonas Häuser baut … nun ja, wer weiß schon, ob es da W-LAN gibt? Mein neuer Freifahrtschein für den Urlaub: Ich muss zumindest so tun können, als gäbe es keinen Grund, meinen Computer mitzunehmen«. Aber nachdem ihr Urlaub im fernen Brasilien endlich stattgefunden hat, erzählt sie mir: »Alle hatten ihren Blackberry dabei. Saßen da im Zelt, die Blackberrys eingeschaltet. Es war, als wäre da irgendwo am Himmel ein riesiger Satellit geparkt.«
Diane sagt, sie erhält ungefähr fünfhundert Mails, einige hundert Textnachrichten und um die vierzig Anrufe pro Tag. Ihr fällt auf, dass viele Geschäftsnachrichten mehrfach ankommen. Die Leute schicken ihr eine Message und eine Mail und rufen dann
noch an, um eine Nachricht auf der Mailbox zu hinterlassen. »Kunden-Nervosität«, erklärt sie. »Es geht ihnen besser, wenn sie kommunizieren.« In ihrer Welt ist Diane es gewöhnt, eine hektische Nachricht zu bekommen, auf die sie möglichst schnell antworten soll. Sie hat Angst, dass sie nicht genügend Zeit hat, sich in Ruhe mit den wichtigen Dingen zu befassen. Und es ist schwer, sich immer ein Gefühl dafür zu bewahren, was in diesem unentwegten Kommunikationsgetöse wichtig ist und was nicht.
Das Ich, das in einer Welt blitzschneller Reaktionen geprägt wurde, misst seinen Erfolg an erledigten Telefonaten, beantworteten E-Mails, erwiderten Anfragen und erreichten Kontaktpersonen. Dieses Ich beruht auf der Grundlage dessen, was die Technologie uns anbietet. Aber unter dem Druck der Technologie bezüglich Arbeitsumfang und -tempo stoßen wir auf ein Paradox: Wir betonen, dass unsere Welt zunehmend komplexer ist, haben jedoch eine Kommunikationskultur entwickelt, die die Zeit, die uns zur Verfügung steht, um uns hinzusetzen und ungestört nachzudenken, reduziert. Indem wir auf Arten kommunizieren, die praktisch sofortige Antworten verlangen, lassen wir uns nicht genügend Raum, uns mit komplizierten Problemen zu befassen.
Trey, ein sechsundvierzigjähriger
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