Verloren unter 100 Freunden
über die Tugenden eines gemeinschaftlich orientierten Ichs nachzudenken. Alle Fragen nach Autonomie sehen anders aus, wenn wir tagtäglich selbst dann mit anderen zusammen sind, wenn wir allein sind.
Die Auswirkungen der Vernetzung auf junge Menschen sind paradox. Sie erleichtert es ihnen, mit anderen Identitäten zu spielen, aber sie macht es ihnen schwerer, Vergangenes hinter sich zu lassen, weil das Internet für immer ist. Vernetzung erleichtert die Eigenständigkeit (ein Handy ermöglicht Kindern größere Freiheit), hemmt sie aber gleichzeitig auch (sie sind ständig im Fokus der Eltern). Teenager wenden sich von den »Echtzeit«-Anforderungen des Telefons ab und verschwinden in Rollenspielen, die sie als »Gemeinschaften« oder »Welten« bezeichnen. Und doch entwickeln viele, während sie sich dem neuen Leben im Netz hingeben, eine unerwartete Nostalgie. Sie ärgern sich über die Geräte, die sie dazu zwingen, ihre Biografie preiszugeben; sie sehnen sich nach einer Welt, in der ihnen private Informationen nicht automatisch abverlangt werden, quasi als Preis für die Nutzung bestimmter Werkzeuge. Häufig sind es die Kinder, die ihre Eltern auffordern, beim Mittagessen das Handy wegzulegen. Die jungen Leute fangen an, über
Probleme zu reden, bei denen ihre Eltern in ihren Augen längst aufgegeben haben.
Ich interviewe Sanjay, sechzehn. Wir wollen uns zwischen zwei Unterrichtsstunden eine Stunde lang unterhalten. Zu Beginn unseres Gesprächs holt er sein Handy aus der Tasche und schaltet es aus. 24 Am Ende schaltet er es wieder ein. Er sieht mich geknickt, fast verlegen an. Während unseres Gesprächs hat er über hundert Nachrichten erhalten. Einige sind von seiner Freundin, die, wie er sagt, »einen Absturz« hat. Andere sind von einer Gruppe enger Freunde, die versuchen, ein kleines Konzert zu organisieren. Er fühlt sich stark unter Druck zu antworten und nimmt seine Bücher und seinen Laptop, um sich eine ruhige Ecke zu suchen, wo er sich an die Arbeit machen kann. Als er sich verabschiedet, sagt er noch als Nachtrag zu unserem Gespräch, mehr zu sich selbst als zu mir: »Ich kann mir gar nicht vorstellen, das immer noch zu machen, wenn ich älter werde.« Und dann leiser: »Wie lange muss ich das denn noch machen?«
9. Kapitel
Aufwachsen an der virtuellen Nabelschnur
Roman, achtzehn, gesteht mir, dass er beim Autofahren seine Textnachrichten liest und nicht vorhat, damit aufzuhören. »Ich weiß, ich sollte es bleibenlassen, aber das wird nicht passieren. Wenn ich eine Facebook-Nachricht bekomme oder es steht irgendwas an meiner Pinnwand … muss ich einfach nachsehen. Unbedingt.«
Ich spreche mit ihm und zehn seiner Mitschüler an der Cranston-Schule, einer privaten koedukativen Highschool in Connecticut. Seine Freunde geben sich empört, aber dann gestehen etliche, es genauso zu machen. Warum tun sie das? Ihre Gründe sind keine; sie drücken einfach nur ein Bedürfnis aus. »Ich unterbreche ein Telefongespräch sogar dann, wenn der neue Anruf mit ›Unbekannter Anrufer‹ identifiziert wird – ich muss einfach wissen, wer dran ist. Also unterbreche ich einen Freund zugunsten eines ›Unbekannten‹«, sagt Maury. »Ich will unbedingt wissen, wer mich anruft … Und wenn ich mein Telefon höre, muss ich drangehen. Ich kann gar nicht anders. Ich muss wissen, wer es ist und was er will.« Marilyn fügt hinzu: »Ich lasse beim Fahren den Klingelton an. Wenn eine Nachricht reinkommt, muss ich nachsehen. Egal wie. Zum Glück zeigt mir mein Handy den Text als Pop-up, genau vor meiner Nase … So brauche ich beim Fahren nicht groß herumzugucken.«
Diese jungen Leute sind unentwegt in Wartestellung. Und sie sind bereit, Risiken einzugehen, um auf dem Laufenden zu sein. Etliche geben zu, dass sie schon Unfälle hatten, wenn sie herumliefen und dabei am Handy hingen. Eine hat sich einen Schneidezahn abgebrochen. Eine andere zeigt mir einen blauen Fleck, den sie sich
kürzlich geholt hat. »Ich bin voll gegen den Kühlschrankgriff gerannt.«
Ich stelle der Gruppe eine Frage: »Wann wollten Sie das letzte Mal nicht gestört werden?« Ich erwarte, viele Geschichten zu hören. Aber es kommt nichts. Schweigen. Dann sagt einer: »Ich warte gerade darauf, dass mich jemand stört.« Für ihn ist das, was ich als »Störung« bezeichnen würde, der Anfang einer Verbindung.
Die jungen Leute von heute sind mit Roboterhaustieren und einem komplett vernetzten Leben aufgewachsen. In ihren Ansichten über
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