Verloren unter 100 Freunden
klar, dass er auch in der physischen Welt Zeit mit Freunden und Familie verbringt. Aber er sagt, Second Life sei seine »bevorzugte Art und Weise, mit Leuten zusammen zu sein«. 12
Zusätzlich zu der Zeit, die er auf Second Life verbringt, hat Pete einen Avatar auf World of Warcraft, und er ist regelmäßiger Teilnehmer auf den Seiten der sozialen Netzwerke Facebook, LinkedIn und Plaxo. Jeden Tag überprüft er einen beruflichen und drei persönliche Mail-Accounts. Ich habe diese Art, durch verschiedene Identitäten zu wandern, einmal als »Hin- und Herpendeln« beschrieben. 13 Doch jetzt, mit der mobilen Technologie, hat sich diese Praxis zum Mischmasch eines Lebensmix beschleunigt. Schnelles Pendeln verfestigt sich zu einem Gefühl ständiger Teilnahme. Selbst ein einfaches Handy versetzt uns in eine Welt fortgesetzter geteilter Aufmerksamkeit. 14
Vor einigen Jahren unterhielt sich einer meiner Studenten mit mir darüber, wie er zum ersten Mal mit einem Freund, der einen Anruf auf seinem Handy bekam, über den MIT-Campus schlenderte. Er war irritiert, beinahe fassungslos. »Er hat mich einfach auf ›Pause‹ gestellt. Erwartet er von mir, dass ich mir merke, wo wir gerade waren, und die Unterhaltung wieder aufgreife, wenn er fertig ist?« Zu jener Zeit wirkte das Verhalten seines Freundes unhöflich und befremdlich.
Nur ein paar Jahre später fällt es nicht mehr weiter auf. Die mobile Technologie hat uns alle »pausierbar« gemacht. Unsere persönlichen Gespräche werden regelmäßig durch eingehende Anrufe oder E-Mails unterbrochen. In der Epoche der Papierbriefe war es inakzeptabel, wenn ein Kollege während einer Besprechung seine Post las. Nach der neuen Etikette ist es fast zur Norm geworden, sich von seinem Gesprächspartner abzuwenden, um einen Anruf anzunehmen oder eine SMS zu beantworten. Es ist schwer zu sagen, ob jemand, der ein Mobiltelefon in der Hand hat, einem noch seine Aufmerksamkeit schenkt. Ein Elternteil, Partner oder Kind starrt gedankenverloren auf sein Handy und merkt es oft gar nicht. In Restaurants bittet man die Gäste, ihre Handys auf Vibrationsalarm zu schalten. Aber viele brauchen gar kein Signal, um zu wissen, dass auf ihrem Handy etwas vor sich geht. »Wenn sich irgendetwas auf meinem Handy tut, verändert sich das Display«, sagt ein sechsundzwanzigjähriger Rechtsanwalt. »Der Bildschirm wird hell. Selbst wenn ich das Telefon in der Tasche habe … sehe ich das, spüre ich es … Ich weiß immer, was sich auf meinem Handy abspielt.«
Die Menschen sind geschickt darin, Rituale zur Abgrenzung der Arbeitswelt und der Welt der Familie, von Spiel und Entspannung, zu erfinden. Es gibt bestimmte Zeiten (den Sabbat), bestimmte Mahlzeiten (das Mittagessen der Familie), bestimmte Kleidung (die »Rüstung« des Arbeitstags wird zu Hause ausgezogen, sei es nun der Anzug des Geschäftsmannes oder der Blaumann des Arbeiters) und bestimmte Orte (das Esszimmer, das Wohnzimmer, die Küche und das Schlafzimmer). Heute verschwimmen die Grenzen, weil uns die Technologie jederzeit überallhin begleitet. Vorschnell feierten wir die ständige Gegenwart einer Technologie, die keinen Respekt vor traditionellen und hilfreichen Abgrenzungen kennt. 15
Sal, ein zweiundsechzigjähriger Witwer, bezeichnet eine dieser nicht mehr existierenden Grenzen als »Rip-van-Winkle-Erfahrung«.
Als seine Frau vor fünf Jahren krank wurde, fiel er aus einer Welt heraus. Jetzt, ein Jahr nach ihrem Tod, wacht er in einer anderen wieder auf. Unlängst fing Sal wieder an, Gäste einzuladen. Bei seiner ersten kleinen Abendgesellschaft, so erzählt er mir, »hatte ich eine Frau von zirka fünfzig eingeladen, die in Washington arbeitet. Mitten in einer Unterhaltung über den Nahen Osten holte sie ihr Blackberry hervor. Sie sagte aber nichts. Ich fragte mich, ob sie ihre Mailbox abhörte. Ich fand es unhöflich, also fragte ich sie, was sie da machte. Sie sagte, sie blogge unsere Unterhaltung. Sie bloggte unsere Unterhaltung!« Etliche Monate später ist Sal immer noch fassungslos. Er betrachtet einen Abend mit Freunden als Privatsache, wie von einer unsichtbaren Schutzmauer umgeben. Sein Gast, eine Verfechterin des Lebensmix, sieht den Abend als Gelegenheit, auf einer breiteren virtuellen Bühne in Erscheinung zu treten.
Der neue Ich-Zustand: Multitasking und die Alchemie unserer Zeit
In den Achtzigerjahren machten die Kinder, die ich zu ihrem Leben mit der Technologie befragte, häufig ihre Hausaufgaben mit Fernsehen und
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