Verloren unter 100 Freunden
Rechtsanwalt mit einer großen Firma in Boston, spricht dieses Thema offen an. Über E-Mails sagt er: »Ich beantworte Fragen, die ich gleich beantworten kann, sofort. Und das wollen die Leute auch. Aber es ist nicht nur die Geschwindigkeit. … Die Fragen haben sich dahingehend verändert, dass ich sie auch schnell beantworten kann .« Trey beschreibt juristische Dinge, die Zeit und Fingerspitzengefühl erfordern, und sagt, »dass die Leute dafür inzwischen keine Geduld mehr haben. Sie schicken eine E-Mail und erwarten, schnell etwas zurückzubekommen. Dafür verzichten sie auch auf die juristischen Feinheiten; wirklich, der Klient will jetzt etwas hören, deshalb antworte ich ihm
so schnell wie möglich … oder so, dass ich maximal einen Tag dafür brauche. Ich fühle mich genötigt, in groben Zügen zu denken.« Er verbessert sich: »Es ist natürlich nicht die Technologie, die das verursacht, sondern die Technologie weckt Erwartungen hinsichtlich des Tempos.« Wir sind zurückgekehrt zu einem Gespräch über Chancen und Gefahren. Die Technologie bietet uns die Schnelligkeit, und wir sind begeistert, dass sie uns hilft, unser Tempo zu steigern.
Wie Diane beschrieb auch Trey, dass seine Klienten ihm oft gleichzeitig eine Instant Message, eine E-Mail und eine Nachricht auf die Mailbox schicken. »Sie sagen sich: ›Sicher ist sicher.‹ Sie glauben, sie hätten das Recht dazu.« Er fasst seine Erfahrungen der vergangenen zehn Jahre zusammen: Die elektronische Kommunikation ist befreiend, aber im Endeffekt »hat sie mich in einen Beschleuniger, eine Tretmühle gespannt, doch das ist nicht dasselbe, wie produktiv zu sein«.
Ich unterhalte mich mit einer Gruppe von Anwälten, die alle Stein und Bein schwören, dass sie ihre Arbeit ohne Smartphones nicht erledigen könnten. Sie schwören, sie wären damit produktiver, und ihre Mobilgeräte gäben ihnen die Freiheit, zu Hause zu arbeiten und mit ihren Familien zu verreisen. Die Frauen betonen insbesondere, dass das vernetzte Leben es ihnen ermöglicht, weiterzuarbeiten und bei ihren Kindern zu sein. Sie sagen aber auch, ihre Mobilgeräte fräßen die Zeit zum Nachdenken auf. Eine erklärt: »Ich habe nicht genug Zeit für mich, um mir Gedanken zu machen.« Andere sagen: »Ich muss darum kämpfen, mir Zeit zum Nachdenken zu nehmen.« »Ich verschaffe mir künstlich Zeit zum Nachdenken.« »Ich schlage die Zeit zum Nachdenken raus.« All diese Formulierungen implizieren ein von der Technologie getrenntes »Ich«, das in der Lage ist, die Technologie beiseitezulegen, so dass es unabhängig von deren Anforderungen funktionieren kann. Diese Formulierung
steht im Gegensatz dazu, dass immer mehr Menschen ihr Leben in ständiger Gegenwart eines Bildschirms leben. Diese Realität bringt uns dahin, uns wie die Cyborgs am MIT als eins mit unseren Geräten zu sehen. Sich mehr Zeit zum Nachdenken zu verschaffen hieße, unsere Smartphones auszuschalten. Aber das ist leichter gesagt als getan, weil unsere Mobilgeräte immer enger an unser körperliches und seelisches Empfinden gekoppelt sind. 22 Sie liefern uns ein soziales und psychologisches GPS, ein Navigationssystem für an die Leine gelegte Ichs.
Was Diane betrifft, so versucht sie Schritt zu halten, indem sie auch in den »Pausenzeiten« kommuniziert – den Zeiten, in denen sie früher während einer Taxifahrt oder beim Schlangestehen oder auf dem Weg zur Arbeit vor sich hin geträumt hat. Diese Zeit aber brauchen wir vielleicht (körperlich und seelisch), um unsere Konzentrationsfähigkeit zu behalten. 23 Aber Diane gestattet sich das nicht. Und sie benutzt natürlich die neue Art von Zeit: die der geteilten Aufmerksamkeit.
Diane fürchtet das Telefon, weil dessen Echtzeitansprüche ihr zu viel Aufmerksamkeit abverlangen. Aber wie das persönliche Gespräch, das es ersetzt, kann das Telefon auf eine Art und Weise verbinden, wie SMS und E-Mail es nicht können: Beide Gesprächspartner sind anwesend. Wenn es Fragen gibt, können sie sofort beantwortet werden. Die Leute können gemischte Gefühle zum Ausdruck bringen. Im Gegensatz dazu neigen E-Mails dazu, hin und her zu gehen, ohne auf den anderen einzugehen . Dabei entstehen häufig Missverständnisse. Gefühle werden verletzt. Und je größer das Missverständnis, desto größer die Anzahl der Mails. Weit mehr als notwendig. Wir empfinden die Liste der ungelesenen Nachrichten in unserer Mailbox als Last. Und dann projizieren wir unser Gefühl auf die anderen und
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