Verloren unter 100 Freunden
Roboter sind sie Pioniere, die erste Generation, die solche Simulationen nicht als zweite Wahl betrachtet. Was das Online-Leben betrifft, so sehen sie dessen Macht – schließlich setzen sie ihr Leben aufs Spiel, um ihre Nachrichten abzurufen –, aber sie sehen es auch so, wie man das Wetter sehen könnte: als etwas Unabänderliches, das man genießt und manchmal auch ertragen muss. Sie haben sich daran gewöhnt, aber sie zeigen Ermüdungserscheinungen. Es gibt so viele Tummelplätze; es kostet Energie, die Dinge am Laufen zu halten, und es kostet Zeit, eine Menge Zeit. »Manchmal hat man keine Zeit für seine Freunde, außer sie sind online«, ist eine weit verbreitete Klage. Und dann sind da die unwiderstehlichen Zwänge des vernetzten Lebens – jene, die zu riskanten Fahrmanövern und abgebrochenen Schneidezähnen führen.
Die Heranwachsenden von heute haben nicht weniger als frühere Generationen das Bedürfnis, bestimmte Fertigkeiten zu erlernen, über ihren Selbstwert und ihre Identität nachzudenken und mit Gefühlen umgehen und sie ausdrücken zu können. Sie brauchen Zeit, sich selbst zu entdecken, Zeit zum Nachdenken. Aber die Technologie, die im Dienste der Dauerkommunikation in telegrafischer Geschwindigkeit und Kürze steht, hat die Regeln der Beschäftigung mit all diesen Dingen verändert. Wann gibt es Mußestunden, wann Stille? Die informationsgetriebene Welt der blitzschnellen Antworten
macht Selbstreflexion nicht unmöglich, aber sie tut wenig, um sie zu begünstigen. Wenn der Gedankenaustausch auf den kleinen Bildschirm zurechtgeschnitten und auf die emotionale Stenografie von Emoticons reduziert wird, gibt es unweigerlich Vereinfachungen. Und was ist mit dem Bedürfnis Jugendlicher nach Geheimnissen, danach, für sich zu behalten, was ihnen allein gehört?
Das frage ich mich, während ich beobachte, wie Handys in Schulcafeterien herumgereicht werden. Fotos und Nachrichten werden ausgetauscht und verglichen. Ich kann nicht umhin, mich mit den Absendern dieser Nachrichten zu identifizieren. Ob sie wohl wissen, dass ihre Worte und Bilder öffentlich zur Schau gestellt werden? Vielleicht. Traditionell erforderte die Entwicklung von Vertraulichkeit eine gewisse Privatsphäre. Vertraulichkeit ohne Privatsphäre definiert die Bedeutung von Vertraulichkeit neu. Auch Alleinsein ist neu definiert worden. Vernetzte Kinder wissen genau, dass ein Elternteil stets auf Abruf verfügbar ist – nur eine SMS oder einen Anruf weit entfernt.
Stufen der Loslösung
Mark Twain mythologisierte die Suche Jugendlicher nach ihrer Identität in der Geschichte von Huckleberry Finn. Wenn Huckleberry Finn auf dem Mississippi ist, kann er sich vor der Erwachsenenwelt sicher fühlen. Die Zeit auf dem Fluss steht symbolisch für den Abnabelungsprozess eines Kindes von den Eltern. Dieses Übergangsritual ist nun von der Technologie umgewandelt worden. Bei der herkömmlichen Variante internalisiert das Kind die Erwachsenen in seine Welt, bevor es die Schwelle zur Unabhängigkeit überschreitet. In der modernen, technologisch vernetzten Version kann es die Eltern in einen Interimszustand mitnehmen, wie ihn das
Handy bereitstellt, wo alle wichtigen Leute auf Abruf stehen. So gesehen fahren die Generationen heute gemeinsam den Fluss hinab, und Heranwachsende sehen sich bei der Entwicklung ihrer Unabhängigkeit nicht demselben Druck ausgesetzt, den wir mit dem Weg ins Erwachsenenleben verbinden.
Wenn Eltern ihren Kindern ein Handy schenken – die meisten Teenager, mit denen ich gesprochen habe, bekamen ihr erstes Mobiltelefon im Alter von neun bis dreizehn Jahren –, geht das üblicherweise mit einer Abmachung einher: Es wird erwartet, dass die Kinder die Anrufe ihrer Eltern annehmen. Diese Vereinbarung ermöglicht es den Kindern, Dinge zu unternehmen – Freunde besuchen, ins Kino oder einkaufen gehen, sich am Strand tummeln –, die man ihnen ohne Handy nicht erlauben würde. Doch das »Kind an der Leine« lernt nicht, allein und auf sich selbst gestellt zu sein. So gab es früher beispielsweise für Stadtkinder einen Zeitpunkt, einen wichtigen Moment, in dem sie zum ersten Mal allein loszogen. Dieses Wagnis vermittelte dem Kind das Gefühl der Eigenverantwortung. Wenn es Angst bekam, musste es damit fertigwerden. Das Handy puffert diese Erfahrung ab.
Eltern wollen, dass ihre Kinder sich melden, wenn sie sie anrufen, aber Jugendliche müssen sich selbstständig machen. Bei einer Gruppe von Zwölftklässlern der
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