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Verloren unter 100 Freunden

Verloren unter 100 Freunden

Titel: Verloren unter 100 Freunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherry Turkle
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innerhalb eines Tages unhöflich vorgekommen und habe nicht weitermachen können. Er fühlte sich schuldig, weil er keine Zeit hatte, allen Leuten zu antworten, die ihm schrieben. »Nur ein bisschen« auf Facebook zu sein habe nicht funktioniert – das Netzwerk erlaube einem keine reduzierte Teilnahme. Schon das Minimum sei »der pure Stress« gewesen.
    »In der Welt von Facebook«, erklärt Brad, »zählen sogar Kleinigkeiten wie deine Lieblingsfilme. Und zu welchen Gruppen du gehörst. Sind es die richtigen?« Alles ist von Bedeutung und ein Zeichen dafür, wer man ist:
    »Wenn man sich auf Facebook darstellen muss, um jemandem, der einen nicht kennt, zu vermitteln, wer und was man ist, entwickelt man leicht die fixe Idee von der Bedeutung winzigster Details. Wie die Überlegung: ›Wenn ich die Band State Radio und die Band Spoon gut finde, was bedeutet es dann, welche von beiden ich zuerst in der Liste meiner Lieblingsgruppen aufführe? Was werden die Leute über mich denken?‹ Ich weiß von Mädchen, die herumknobeln: ›Ist dieses
Bild vielleicht zu freizügig, um es reinzustellen? Oder bin ich prüde, wenn ich es nicht nehme?‹ Man muss sorgfältig überlegen, aus gutem Grund; man macht sich klar, wie viele Leute sich das Profil ansehen und ihre Schlüsse daraus ziehen. Man muss wissen, dass alles, was man ins Netz stellt, unter die Lupe genommen wird. Und das macht es notwendig, genau darauf zu achten, was man hochlädt und wie man rüberkommt … Und wenn man so viel darüber nachdenken muss, wie man ankommt, dann ist das nur eine andere Art, auf schlechte Weise über sich nachzudenken.«
    »Auf schlechte Weise über sich selbst nachzudenken«, bedeutet für Brad, im Telegrammstil »kurze Rauchsignale« abzugeben, die einfach zu lesen sind. In meinen Augen ist diese Vereinfachung eine Täuschung. Die sozialen Medien animieren uns dazu, uns in plakativer Form darzustellen. Und wenn wir dann einem Publikum gegenüberstehen, sehen wir uns gezwungen, diesem vereinfachten Bild zu entsprechen. Auf Facebook gibt sich Brad cool und gescheit – zweifellos sind diese beiden Eigenschaften Teil seiner Persönlichkeit. Aber er scheut sich, den Leuten im Netz andere Teile zu zeigen (wie zum Beispiel, dass er Harry Potter mag). Er verbringt immer mehr Zeit damit, seinen Online-Mr-Cool zu perfektionieren. Und er fühlt sich unter Druck, immer und überall cool zu sein, denn auf Facebook ist er das nun einmal.
    Zuerst dachte Brad, dass sowohl sein Facebook-Profil als auch seine College-Bewerbung ihn zu dieser »blöden Denkweise« verleitet hätten, die ihn auf ein Stereotyp reduziert. Sein Facebook-Profil zu schreiben kam ihm vor, als würde er sich kulturelle Stichworte zusammensuchen, um die Person zurechtzuschustern, die andere in ihm sehen sollten. Die College-Bewerbung verlangte nach einer Erfolgsgeschichte und erschien ihm auch nicht befriedigender: Er musste prahlen, und das gefiel ihm nicht. Aber dann änderte er
seine Meinung über dieses Bewerbungsverfahren. »Ich hab dabei schließlich eine Menge darüber gelernt, wie ich so schreibe und denke – Sachen, von denen ich weiß, dass ich darüber nachdenken sollte, aber über die ich mir normalerweise kaum Gedanken mache.« Ich frage ihn, ob Facebook ihm auch diese Gelegenheit biete. Er bleibt eisern dabei, dass es das nicht kann: »Man wird auf eine Liste von Lieblingsdingen reduziert. ›Zählen Sie Ihre Lieblingsmusik auf‹ – das lässt einem keinerlei Spielraum, um ins Detail zu gehen.« Brad sagt: »In einer Unterhaltung kann es interessant sein, dass ich auf einer Europareise mit meinen Eltern anfing, mich für die politischen Wandmalereien in Belfast zu interessieren. Aber auf einer Facebook-Seite ist das einfach zu viel. Das wäre der Todesstoß. Zu viel, zu früh, zu ausgefallen. Dabei … ist es ja auch ein Teil von mir, oder? … Man soll eine Menge Listen erstellen. Man muss aufpassen, dass man die ›richtige‹ Band angibt und lieber nicht den polnischen Roman, den kein Mensch gelesen hat.« Und am Ende verliert Brad zu leicht die Orientierung, was wichtig ist und was nicht.
    »Für wen spielt es eine Rolle, dass ich die Band Spoon besser finde als State Radio? Oder State Radio besser als Cake? Aber sowas wie Facebook verleitet einen zu der Annahme, dass es sehr wohl darauf ankommt … Ich seh mir jemandes Profil an und sage mir: ›Oh, der mag diese und jene Musikgruppen.‹ Und ich denke: ›Das ist aber ein Angeber‹, oder: ›Der

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