Verloren unter 100 Freunden
für Facebook. Jetzt fangen sie an, Persönlichkeiten für die College-Bewerbung zu konstruieren. Und da, sagt Tom, »braucht man jeweils ein etwas anderes Persönlichkeitsbild für die verschiedenen Colleges, bei denen man sich bewirbt: eins für Dartmouth, ein anderes, sagen wir mal, für Wesleyan«. Für diesen begeisterten Profileschreiber erfordert jede Bewerbung eine andere Strategie. »Wenn man bei den College-Bewerbungen angekommen ist, ist man Profi im Profileschreiben«, meint er. Sein Klassenkamerad Stan formuliert seine Internet-Profile äußerst detailliert. Jedes dient einem anderen Zweck, aber sie müssen sich überschneiden, sonst könnte die Authentizität in Frage gestellt sein. Die Illusion von Authentizität aufzubauen erfordert eine gewisse Virtuosität. Das eigene Ich unter diesen Umständen zu präsentieren – mit vielfältigen Medien und vielfältigen Zielen –, ist keine leichte Aufgabe. Der Trick, sagt Stan, besteht darin, »die Profile miteinander zu verweben, damit die Leute sehen, dass man nicht vollkommen verrückt ist … Was ich auf der Highschool gelernt habe, waren Profile, Profile und nochmals Profile, wie man ein Ich herstellt.«
Zu Beginn meiner Untersuchungen warnte mich ein älterer College-Student, mich ja nicht »von irgendeinem Interviewpartner, der Ihnen erzählen will, seine Facebook-Seite wäre ›sein wahres Ich‹«, für dumm verkaufen zu lassen. »Das ist wie in einem Theaterstück. Man spielt eine Rolle.« Eric, ein Zwölftklässler an der Hadley-Schule im ländlichen New Jersey, der aufs College will, beschreibt sich als »gewieft im Zurechtfummeln einer Facebook-Seite«. Trotzdem
ist auch er schockiert, wenn er Beweise dafür findet, dass Mädchen »Schrumpf«-Software benutzen, um auf den Fotos in ihrem Profil schlanker zu wirken. »Auf der kleinen Version des Bildes sieht man es nicht, aber wenn man sich die große Version des Fotos ansieht, merkt man, dass der Hintergrund verzerrt ist.« Mit achtzehn hat er sich zum Identitätsdetektiv gemausert. Das Facebook-Profil macht besonders viel Stress, weil es so wichtig für das gesellschaftliche Leben an der Highschool ist. Manche Schüler fühlen sich so sehr von der Seite in Beschlag genommen, dass sie für eine Weile aus Facebook aussteigen, um wieder zu sich zu kommen.
Brad, achtzehn, Zwölfklässler an der Hadley-Highschool, ist im Begriff, ein Jahr auszusetzen, um im sozialen Dienst zu arbeiten, bevor er an ein kleines geisteswissenschaftliches College im Mittelwesten geht. Seine Eltern sind Architekten; seine Leidenschaften sind Biologie und Schwimmen. Brad möchte gern am gesellschaftlichen Leben der Hadley-Highschool teilnehmen, aber er mag es nicht, zu chatten oder IMs zu verfassen. Es ist ihm ein Anliegen, dass ich ihn nicht für »einen Maschinenstürmer« halte. Über das Internet hat er eine Menge Gutes zu sagen. Er ist sicher, dass es unsicheren Menschen in vielerlei Weise helfen kann. »Manchmal kann die Möglichkeit, seine Gedanken ins Netz zu stellen, beruhigend sein«, sagt er, weil man dabei die Gelegenheit bekommt, »Dinge zu durchdenken, abzuwägen und sicherzugehen, dass man sich so klar und präzise wie möglich ausdrückt«. Aber im Verlauf unserer Unterhaltung zeigen sich Brads Ambivalenzen. Auch wenn es für manche Leute hilfreich ist, weil sie sich sicherer fühlen, macht die Online-Kommunikation es einem leicht, anderer Leute Gefühle zu ignorieren. Man braucht keinen Blickkontakt. Man braucht nicht zu bemerken, wie »verletzt oder wütend jemand ist, dessen Stimme man nicht hört«. Brad sagt: »Online entgeht den Leuten deine Körpersprache, dein Tonfall. Du bist nicht komplett da.« Und das
Schlimmste ist: Das Online-Leben hat Brad dazu gebracht, seinen Freunden zu misstrauen. Seine Instant Messages wurden ohne sein Wissen gespeichert und per »Ausschneiden und Einfügen« an Dritte weitergeleitet.
So kommt es, dass Brad, als ich ihn im Frühling seines letzten Jahres in Hadley treffe, aus dem Online-Leben »ausgestiegen« ist. »Ich bin nicht mehr im Netz«, sagt er, »jedenfalls nicht diesen Sommer über, vielleicht auch das ganze freie Jahr lang, bevor ich aufs College gehe.« Er erklärt, es sei schwierig auszusteigen, weil all seine Freunde auf Facebook seien. Ein paar Wochen vor unserer Unterhaltung hatte er einen Anlauf genommen, wieder einzusteigen, aber sofort gemerkt, dass er nicht genug tat, um den Erwartungen der anderen gerecht zu werden. Er sagt, er sei sich
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