Verloren unter 100 Freunden
die mir ähnliche Geschichten erzählen, beklagt sich Audrey über die Unaufmerksamkeit ihrer Mutter, wenn sie sie von der Schule oder vom Sport abholt. Dann sei ihre Mutter in der Regel auf ihr Smartphone konzentriert, sagt Audrey, und schreibe entweder Nachrichten oder rede mit ihren Freundinnen. Audrey beschreibt den Ablauf: Sie kommt erschöpft und mit schwerer Sporttasche aus der Turnhalle. Ihre Mutter sitzt, in ihr Smartphone vertieft, in ihrem Geländewagen und schaut nicht einmal auf, bis Audrey die Wagentür öffnet. Manchmal sucht sie Blickkontakt, bleibt aber in das Telefon versunken, während sie losfahren. Audrey sagt: »Das Smartphone drängt sich zwischen uns, aber es ist hoffnungslos. Sie wird nicht damit aufhören. Also, es kann vier Tage her sein, seit ich das letzte Mal mit ihr gesprochen habe, aber dann sitze ich im Auto und warte schweigend, bis sie fertig ist.« 3
Audrey hat die Wunschvorstellung, dass ihre Mutter voller Freude auf sie wartet, ohne Telefon. Aber sie resigniert und fragt sich, ob sie überhaupt das Recht hat, Kritik zu äußern, weil sie ja selbst Nachrichten verschickt, wenn sie mit Freunden zusammen ist. Sie tut alles, was sie kann, um einen Anruf zu vermeiden. 4 »Telefonieren nervt. Ich seh darin keinen Sinn. Bei einer Nachricht … kann ich antworten, wann ich will. Ich kann reagieren. Ich kann sie ignorieren. Es richtet sich also nach meiner Stimmung. Ich bin zu nichts
verpflichtet … Ich habe die Kontrolle über die Unterhaltung und auch darüber, was ich sage.«
Textnachrichten verschicken bietet Schutz:
»Es fliegt dir nichts an den Kopf. Du hast Zeit nachzudenken und vorzubereiten, was du sagen willst, um so aufzutreten, wie du bist. Die Vorbereitung ist da mit drin, du hast also die Kontrolle darüber, welches Bild du einer bestimmten Person gegenüber abgibst, weil du dir die Worte sorgfältig aussuchen und überarbeiten kannst, bevor du sie abschickst … Bei Instant Messages kannst du Sachen durchstreichen, korrigieren, jemanden sperren oder einfach aussteigen. Ein Telefongespräch ist viel zu anstrengend. Es wird immer von dir erwartet, dass du es am Laufen hältst, und das ist zu viel Druck … du musst einfach weitermachen … ›Ach, wie war’s denn heute?‹ Man überlegt ständig, was man als Nächstes sagen soll, damit die Unterhaltung nicht einschläft.«
Dann erfindet Audrey ein neues Wort. Mailen sei besser als anrufen, sagt sie, weil es beim Telefonieren viel weniger Abstandhaltung vom anderen gibt.« Damit meint sie, dass sie beim Telefonieren zu viel erfahren oder preisgeben könnte und die Dinge »außer Kontrolle geraten« könnten. Ein Anruf bietet keine ausreichenden Abgrenzungsmöglichkeiten. Audrey räumt ein, dass sie vermutlich »später mal mit Leuten telefonieren muss. Aber jetzt noch nicht .« Beim Chatten fühlt sie sich in sicherem Abstand zu ihrem Gesprächspartner. Wenn sich die Unterhaltung in eine für sie unangenehme Richtung bewegt, kann sie sie leicht in eine andere lenken – oder aufhören: »Beim Chatten kann man das Wichtigste klären; man kann wirklich bestimmen, wann man anfangen und aufhören will. Man sagt: ›Ich muss weg, tschüs.‹ Und dann ist man einfach weg … viel besser als die lang hingezogenen Verabschiedungen, wenn man
keinen richtigen Grund hat, aber das Gespräch beenden will.« Letzteres mag Audrey am wenigsten – das Beenden eines Telefongesprächs. Es erfordere die Fähigkeit, erklärt sie mir, ein Gespräch beenden zu können, »auch ohne dass man einen echten Grund dafür hat … Man will einfach nicht mehr. Ich weiß nicht, wie man das macht. Ich will es auch gar nicht lernen .«
Einen Anruf zu beenden fällt Audrey schwer, weil sie Trennung als Zurückweisung erlebt; sie projiziert den schmerzhaften Stich des Verlassenwerdens, der sie durchfährt, wenn jemand ein Gespräch mit ihr beendet, auf jeden potentiellen Gesprächspartner. Keinen Schreck zu bekommen, wenn jemand eine Unterhaltung beenden will, scheint eine Kleinigkeit zu sein, ist es aber nicht. Es appelliert nämlich an das Selbstwertgefühl. Dafür muss man an einem Punkt sein, den Audrey noch nicht erreicht hat. Da ist es einfacher, gar nicht erst zu telefonieren; Anfang und Ende sind für sie einfach zu brutal.
Damit steht Audrey nicht allein da. Unter ihren Freunden sind Telefonanrufe selten, und sie sagt: »Persönliche Gespräche passieren weitaus seltener als früher. Es heißt immer nur: ›Ach, ich schick dir eine
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