Verloren unter 100 Freunden
sind, sie zu gewähren.
Technologische Errungenschaften existieren in komplexen Wechselwirkungen. Die Bedeutung jeder einzelnen hängt davon ab, welche sonst noch zur Verfügung stehen. Das Telefon war früher ein
Weg, sich miteinander in Verbindung zu setzen oder jemandem eine einfache Frage zu stellen. Aber wenn man erst einmal E-Mail, Instant Messaging und SMS hat, ändern sich die Dinge. Auch wenn wir das Telefon noch immer benutzen, um mit den Menschen in Verbindung zu bleiben, die uns am nächsten sind, gebrauchen wir es außerhalb dieses Personenkreises immer weniger. 2 Die Leute sagen nicht nur, ein Telefonanruf koste sie selbst zu viel Zeit, sie haben auch Angst, dass es anderen Menschen ebenso geht. Randolph, ein sechsundvierzigjähriger Architekt mit zwei Jobs, zwei kleinen Kindern und einem zwölfjährigen Sohn aus erster Ehe, führt beide Argumente an. Er vermeidet es zu telefonieren, weil er sich dann »ausgesaugt« fühlt. »Man verspricht den Leuten mehr, als ich bereit bin zu geben.« Er glaubt, wenn er seine Kommunikation auf SMS und E-Mail beschränkt, könne er alles besser »zusammenhalten«. Er erklärt: »Jetzt, wo es E-Mail gibt, erwarten die Leute, dass ein Anruf ausführlicher ist. Sie erwarten, dass er länger dauert – sonst hätte man ja nicht angerufen.«
Tara, eine fünfundfünfzigjährige Anwältin, die mit Kindern, einem Job und einer neuen Ehe herumjongliert, ist derselben Ansicht: »Wenn man um einen Anruf bittet, gehen die Leute davon aus, dass man einen höheren Gang eingelegt hat. Sie sagen sich: ›Es ist dringend, sonst hätte sie eine Mail geschickt.‹« Also vermeidet es Tara zu telefonieren. Sie möchte ihre Freunde persönlich treffen; die Kurznachricht ist dafür da, sich zu verabreden. »Das ist am effizientesten.« Aber Effizienz hat auch ihre Kehrseite. Geschäftliche Treffen finden nach dem Terminkalender statt, aber Freunde haben auch mal außer der Reihe Bedürfnisse. Unter Freunden können die Dinge nicht immer warten. Tara weiß das; sie hat ein schlechtes Gewissen und spürt, dass sie Abstriche macht: »Ich bin jetzt an dem Punkt, wo ich meine Freunde abfertige, als wären sie Inventargegenstände … oder Kunden.«
Leonora, siebenundfünfzig, Chemieprofessorin, sagt über dieselbe Vorgehensweise: »Ich benutze Kurznachrichten, um mich mit Freunden zu verabreden, aber ich bin so beschäftigt, dass ich oft eine Verabredung ein oder zwei Monate im Voraus treffe. Nachdem wir uns verabredet haben, telefonieren wir nicht mehr miteinander. Wirklich. Ich rufe nicht an. Sie rufen nicht an. Sie sagen sich, wir sehen uns ja sowieso. Und ich? Ich habe das Gefühl, mich um den Betreffenden gekümmert zu haben.« Leonoras gequälter Tonfall macht deutlich, dass »gekümmert« bedeutet, jemanden von einer Erledigungsliste gestrichen zu haben. Tara und Leonora sind unzufrieden, aber sie haben das Gefühl, die Verhältnisse nicht ändern zu können. So weit hat die Technologie sie gebracht. Sie verschreiben sich einer neuen Etikette und führen dafür Effizienzzwänge an, allerdings auf einem Gebiet, wo Effizienz hohe Verlustrisiken birgt.
Audrey: ein Leben am Bildschirm
Wir haben Audrey, siebzehn, von der Roosevelt-Highschool, die ihr Facebook-Profil »den Avatar von mir« nennt, schon kennen gelernt. Sie ist eine von Elaines schüchternen Freundinnen, die sich lieber per Textnachricht unterhält als persönlich. Sie hat ihr Handy immer bei sich und benutzt es manchmal sogar zum Chatten, während sie in einem anderen Fenster IMs verschickt. Audrey fühlt sich zu Hause alleingelassen. Sie hat einen älteren Bruder, der Medizin studiert, und einen zweiten, jüngeren Bruder von gerade mal zwei Jahren. Ihre Eltern sind geschieden, und sie wohnt abwechselnd bei beiden Elternteilen. Deren Wohnungen liegen ungefähr eine Dreiviertelstunde Autofahrt auseinander. Das bedeutet, Audrey verbringt viel Zeit unterwegs. »Auf Achse sein«, sagt sie, »das ist mein
Alltag.« Sie betrachtet ihr Handy als den Kitt, der ihr Leben zusammenhält. Ihre Mutter ruft sie an, damit sie ihrem Vater etwas ausrichtet. Ihr Vater macht es genauso. Audrey sagt: »Sie rufen mich an, um mir zu sagen: ›Sag deiner Mutter dies … sorg dafür, dass dein Vater jenes erfährt.‹ Ich benutze das Handy, um beides zusammenzukriegen.« Audrey fasst die Situation so zusammen: »Meine Eltern benutzen mich und mein Handy als Kommunikations-Programm. Ich bin ihr Instant Messenger.«
Wie so viele andere Kinder,
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