Verloren unter 100 Freunden
erzählt? Alice erklärte ihr, familiäre Angelegenheiten hätten sie sehr in Anspruch genommen. Und dann sagte
sie schlicht: »Ich fand, dass man solche Dinge nicht per Textnachricht besprechen sollte.« Am Ende musste sie Tara trösten – dabei wäre es doch eigentlich sie selbst gewesen, die Trost brauchte.
Als Tara mir diese Geschichte erzählt, sagt sie, sie habe sich für ihre Reaktion geschämt. Sie hätte ihre Aufmerksamkeit doch eigentlich auf Alices Verlust richten sollen – und sollte es auch jetzt tun – und nicht auf ihren eigenen Stellenwert als Vertraute. Aber sie hat auch das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. Schließlich waren Alice und sie die ganze Zeit »in Kontakt« gewesen. Sie hatte gemailt; sie hatte dafür gesorgt, das Essen zu arrangieren. Tara kommt wieder auf den Gedanken zurück, dass sie bei einem Telefongespräch mit Alice bestimmt etwas gemerkt hätte. »Ich hätte es an ihrer Stimme gehört. Ich hätte etwas geahnt. Ich hätte sie aus der Reserve locken können.« Aber für Tara sind, wie für so viele, Telefongespräche für die Familie reserviert. Für Freunde, selbst sehr liebe Freunde, steht ein Telefonat praktisch nicht zur Wahl.
Tara meidet den unmittelbaren stimmlichen Kontakt, aber sie weiß, dass sie damit etwas verloren hat. Den jungen Leuten ist das weniger klar. Ich unterhalte mich mit Meredith, einer Elftklässlerin an der Silver Academy, die einige Monate zuvor per Instant Messenger vom Tod einer Freundin erfahren hat und froh war, dass sie auf diese Weise niemanden sehen und mit niemandem reden musste. Sie sagt: »Es war ein freier Tag, also war ich zu Hause und hatte niemanden aus der Umgebung gesehen, und dann schickte mir meine Freundin Rosie eine IM und erzählte mir, meine Freundin sei gestorben. Ich war schockiert und so, aber es ging mir besser, als wenn ich mit jemandem hätte reden müssen. Ich hab das alles durchgemacht, ohne irgendwen zu sehen, und mich nur online mit ein paar Leuten drüber unterhalten, und es ging mir gut. Ich glaube, es wäre viel schlimmer gewesen, wenn es mir jemand persönlich gesagt hätte.«
Ich bitte Meredith, mir mehr darüber zu erzählen. Sie erklärt mir, wenn schlimme Nachrichten per Instant Messenger kämen, könne sie gefasster sein. Es wäre »schrecklich« gewesen, sagt sie, einen Anruf zu bekommen. »So brauchte ich niemand anderem zu zeigen, wie erschüttert ich war.« Tatsächlich kommunizierte Meredith, nachdem sie die Nachricht erhalten hatte, einen Tag lang nur über Instant Messenger mit Freunden. Sie beschreibt die Texte als häufig, aber kurz. »Nur die Sache als solche. Gespräche wie: ›Oh, hast du’s schon gehört?‹ – ›Ja, hab ich.‹ Und das war’s.« In IMs kann sie ihre Gefühle auf Abstand halten. Als sie wieder mit den anderen in der Schule zusammentreffen musste, konnte sie die Gefühlsaufwallung kaum ertragen: »In dem Moment, wo ich meine Freunde sah, wurde es sofort viel schlimmer.« Karen und Beatrice, zwei von Merediths Freundinnen, erzählen ähnliche Geschichten. Karen erfuhr in einer Instant Message vom Tod des Vaters ihrer besten Freundin. Sie sagt: »Es war leichter, auf dem Computer davon zu erfahren. Das machte es einfacher, es zu hören. Ich konnte es nach und nach aufnehmen. Ich brauchte keinen erschüttert anzusehen.« Beatrice überlegt: »Ich möchte keine schlimmen Sachen hören, aber wenn ich es nur zu lesen brauche, kann ich ruhig bleiben.«
Diese jungen Frauen ziehen es vor, mit starken Gefühlen vom sicheren Hafen des Internets aus umzugehen. Das verschafft ihnen eine Alternative dazu, sie in Echtzeit verarbeiten zu müssen. In kritischen Situationen streben sie vor allem nach Haltung. Aber sie finden dabei keine wirkliche Ausgeglichenheit. Wenn sie sich treffen und die Fassung verlieren, suchen sie nach einem neuen Ausweg: Häufig greifen sie dann nach ihrem Handy und tauschen untereinander oder mit Freunden, die gerade nicht da sind, Nachrichten aus. Ich sehe bei dieser Generation, die so schnell sagt: »Bitte nicht anrufen«, eine große Verletzlichkeit. Sie hält ihre Gefühle auf Abstand. Sie geht Menschen, die ihr helfen könnten, aus dem Weg.
Stimmen
Als ich zum ersten Mal las, es seien unsere Gesichter, die uns als menschliche Wesen kennzeichnen, da dachte ich, dass es für mich immer die menschliche Stimme war, die diese Funktion erfüllt. Trotzdem habe ich mich, wie viele der Menschen, die ich befragt habe, zur Komplizin der Technologie machen
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