Verloren unter 100 Freunden
schreiben wie Lincoln oder Shakespeare, aber selbst der Unbegabteste unter uns besitzt dieses unglaubliche Instrument, unsere Stimme, um die ganze Skala menschlicher Gefühle auszudrücken. Warum sollten wir uns dieser Fähigkeit entledigen?«
Der Beginn einer Antwort auf diese Frage ist bereits deutlich geworden: Beim Chatten, Instant Messaging und E-Mailen verbirgt man ebenso viel, wie man zeigt. Man kann sich so präsentieren, wie man »gesehen« werden möchte. Und man kann andere Leute so schnell »abfertigen« wie man will. Zuhören kann einen nur aufhalten. Eine Sprachaufnahme kann man ein bisschen beschleunigen, aber sie muss in Echtzeit ablaufen. Da ist es besser, man lässt sie umformatieren oder spart sie sich gleich ganz. Da geben wir uns so viel Mühe, unseren Robotern ausdrucksvolle Stimmen zu verpassen,
sind aber gleichzeitig zufrieden, wenn wir unsere eigene Stimme nicht zu benutzen brauchen.
Wie die Briefe, die sie ersetzen, tragen E-Mail, Instant Messaging, Chatten und neuerdings Twittern noch eine Spur der Stimme. Als Tara bedauerte, dass sie Alice nicht angerufen hatte – am Telefon hätte sie den Kummer ihrer Freundin herausgehört –, drückte sie damit auch aus, dass sie mit der stimmlichen Kontaktaufnahme aufgewachsen ist und es schade findet, dass sie immer mehr zurückgedrängt wird. Ihre Geschichte spiegelt den Versuch wider, die Dinge wieder in einen traditionellen Rahmen zurückzuführen. Wir treffen uns mit Trey, ihrem Rechtsanwaltspartner. Er steht vor einem anderen Problem, mit dem er nicht zurechtkommt.
»Mein Bruder hat erfahren, dass seine Frau schwanger ist, und das sofort in seinen Blog gestellt. Er hat mich nicht zuerst angerufen. Ich habe ihn angerufen, als ich den Eintrag sah. Ich war wütend auf ihn. Er sah nicht ein, warum ich so ein Ding daraus machte. Er schreibt jeden Tag etwas in seinen Blog, wie es gerade kommt, so lebt er einfach. Als sie also vom Arzt kamen – er gleich ins Netz. Er hat gesagt, es gehöre zu seiner Art dazu, die gute Nachricht mit seiner Frau zu feiern, dass er sie in den Blog gestellt hat, zusammen mit einem Foto, auf dem er ein Glas Champagner hochhält und sie ein Glas Orangensaft. Die beiden hatten die Idee, im Blog zu feiern, sozusagen in Echtzeit, mit den Fotos und allem. Als ich mich beklagte, reagierten sie so, dass ich mir wie ein dummer Schuljunge vorkam. Finden Sie mich altmodisch?« 12
Treys Geschichte unterscheidet sich sehr von Taras. Treys Bruder hat nicht versucht, Zeit zu sparen, indem er nicht anrief. Er hat ihn nicht übergangen oder vergessen oder anderen Familienmitgliedern den Vorrang gegeben. Das Bloggen ist ein Teil seines Privatlebens.
Es ist seine Art, mit seiner Frau diesen Meilenstein in ihrem Familienleben zu feiern. In einem ganz anderen Beispiel unserer neuen Formen der Online-Intimität unterzog sich eine Freundin von mir einer Stammzellen-Transplantation. Ich fühlte mich geehrt, als sie mich einlud, in ihrem Familienblog mitzulesen. Er ist auf meinem Computer als Newsfeed installiert, der auf dem Desktop erscheint. Jeden Tag, oft auch mehrmals, postet die Familie medizinische Berichte, Verse, Gedanken und Fotos. Es gibt Nachrichten der Patientin, ihres Mannes, der Kinder und ihres Bruders, der die Stammzellen gespendet hat. Es gibt Fortschritte und Rückschläge. Auf dem Blog kann man miterleben, wie diese Familie ein Jahr der Therapie lang lebt, leidet und sich freut. Hemmschwellen werden abgebaut. Familienmitglieder erzählen Geschichten, die man im persönlichen Kontakt schwerer miteinander teilen könnte. Ich lese jeden Eintrag. Ich schicke E-Mails. Aber die Gegenwart des Blogs verändert etwas an meinem Verhalten. Ich bin dankbar für jedes bisschen Information, habe aber seltsame Hemmungen anzurufen. Wäre das eine Belästigung? Ich denke an Trey. So wie er versuche ich auch, mich in einer Welt zurechtzufinden, in der das Internet zu einem Ort des Privatlebens geworden ist.
Das Internet bietet viele neue Arten von Räumen. Am einen Ende des Spektrums interviewe ich Ehepaare, die mir erzählen, dass sie sich gegenseitig SMS oder E-Mails schicken, während sie im Bett liegen. Manche sagen, sie wollten einen Wunsch oder ein Gefühl »auf dem System« festhalten. Und es gibt Familienblogs, wo Hochzeiten angekündigt werden oder der Stand einer Krankheit mitgeteilt wird oder Fotos für die Großeltern eingestellt werden. Das sind alles Orte, an denen man man selbst sein kann. Am anderen Ende des Spektrums
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