Verloren unter 100 Freunden
lassen und zahlreiche Stimmen aus meinem Leben verbannt.
Ich hatte vor, mit Joyce, einer Kollegin, essen zu gehen. Einen Tag, bevor wir uns treffen wollten, erhielt meine Tochter ihre College-Zulassung. Ich mailte Joyce, wir hätten eine Menge zu feiern. Sie mailte mir Glückwünsche zurück. Sie hatte die College-Zulassungen ihrer Kinder schon hinter sich und konnte meine Erleichterung verstehen. Beim Essen sagte sie, sie hätte überlegt, mich anzurufen, um mir zu gratulieren, aber das wäre ihr zu »aufdringlich« vorgekommen. Ich gestand ihr, dass ich sie aus demselben Grund nicht angerufen hätte, um ihr die gute Nachricht zu verkünden. Wir fühlten uns beide von einer neuen Etikette eingeengt, waren aber gleichzeitig zufrieden, sie befolgt zu haben. »Ich habe das Gefühl, meine Zeit besser einteilen zu können, wenn ich nicht durch Anrufe gestört werde«, gab Joyce zu.
Joyce und ich haben etwas gewonnen, das wir eigentlich gar nicht haben wollen: Wir dürfen uns auch dann der Illusion hingeben, mit anderen zusammen zu sein, wenn wir allein sind, beruhigt durch E-Mails und von der Verpflichtung entbunden, uns in Echtzeit um andere zu kümmern. Wir sind nicht ausgezogen, die Stimme abzuschaffen, aber am Ende versagen wir uns ihre Annehmlichkeiten. Denn die Stimme kann man nur in Echtzeit erleben, und wir sind beide so beschäftigt, dass wir meinen, keine Stimme mehr füreinander zu haben.
Die Visual Voicemail für iPhones wurde begrüßt, weil sie es einem
erspart, sich eine Nachricht anzuhören, um zu wissen, von wem sie kommt. Und jetzt gibt es Programme, die Voicemails automatisch in Text umwandeln. Ich interviewe Maureen, die im ersten Jahr das College besucht und begeistert ist, eins dieser Programme entdeckt zu haben. Sie sagt, dass ihr nur ihre Eltern Voicemails schicken würden. »Ich liebe meine Eltern, aber sie wissen nicht, wie man mit einer Mailbox umgeht. Da hinterlässt man keine langen Nachrichten. Es dauert zu lange, das abzuhören. Jetzt kann ich ihre Voicemails als Text durchscrollen. Prima.«
Hier, auf dem Gebiet der Konnektivität, treffen wir wieder auf die Geschichte vom »Besser als nichts«, die jetzt zum »Besser als alles andere« wird. Der Wunsch, mit weit entfernten Menschen in Verbindung treten zu können, ist alt. Wir schrieben uns Briefe, schickten uns Telegramme, und dann gab uns das Telefon die Möglichkeit zum unmittelbaren stimmlichen Kontakt. All das war besser als nichts, wenn man sich nicht treffen konnte. Mit zunehmender Zeitknappheit gewöhnten die Leute sich dann an zu telefonieren, anstatt sich zu treffen.
In den Siebzigern, als ich zum ersten Mal bemerkte, dass ich in einem neuen Konnektivitätssystem lebte, war man nie wirklich »weg« von seinem Telefon, denn Anrufbeantworter nahmen einen für jeden eingehenden Anruf in die Verantwortung. Dann wurde dieses Gerät, das ursprünglich dafür vorgesehen war, eine Nachricht zu hinterlassen, wenn jemand nicht zu Hause war, zu einer Auslesevorrichtung, zur viktorianischen Visitenkarte des ausgehenden Jahrtausends. Im Laufe der Zeit wurde die Ansage zum Selbstzweck statt zum Resultat eines gescheiterten Anrufs. Die Leute gewöhnten sich an, gezielt dann anzurufen, wenn sie wussten, dass niemand zu Hause ist. Und sie lernten, das Telefon klingeln zu lassen und darauf zu warten, dass der Anrufbeantworter das Gespräch »entgegennahm«.
Im nächsten Schritt wurde die Stimme aus der gesprochenen Nachricht verbannt, weil die Kommunikation per Textnachricht schneller ging. SMS zu schicken verschafft einem mehr Kontrolle über seine eigene Zeit und seine emotionalen Äußerungen. Aber dann war auch das nicht mehr schnell genug. Mit der mobilen Konnektivität (man denke nur an Textnachrichten und Twitter) können wir unser Leben weitgehend im selben Tempo übermitteln, in dem wir es leben. Aber dieses System ist ein Bumerang. Zwar drücken wir uns jetzt in Stakkato aus, aber dafür verschicken wir viel mehr und häufig an große Empfängergruppen. Also bekommen wir auch mehr zurück – so viel, dass uns die Vorstellung, nur noch über Textnachrichten zu kommunizieren, zu anstrengend vorkommt. Shakespeare hätte dazu vielleicht gesagt, wir seien »verzehrt von dem, was [uns] bis jetzt genährt«. 11
Ich habe diese Geschichte einer Freundin angedeutet, der die Beschreibung einleuchtend, aber gleichzeitig auch unglaublich erschien. Als Professorin für Poetik und unersättliche Leserin sagte sie: »Wir können nicht alle so
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