Verloren unter 100 Freunden
Immobilienmaklerin aus Manhattan. Sie hat ihr Blackberry bei sich. Sie vermutet, dass ihr Mann versuchen könnte, sie zu erreichen. Und tatsächlich ruft er alle halbe Stunde an. Hope gesteht beinahe entschuldigend, dass sie »nicht scharf« auf die Anrufe sei, aber sie liebe ihren Mann, und er brauche das nun mal. Sie meldet sich jedes Mal gewissenhaft, bis schließlich ein Anruf kommt, bei dem der Empfang stark gestört ist. »Jetzt sind wir außer Reichweite, Gott sei Dank«, sagt sie, während sie ihr Handy ausschaltet. »Ich brauche eine Pause.«
Die Leute haben immer mehr das Gefühl, sie müssten einen plausiblen Grund dafür haben, auch einmal ungestört sein zu wollen, nicht ständig erreichbar zu sein. Es ist eine Ironie, dass sich die Überlegungen der Menschen immer um Technologie drehen, wenn sie über Möglichkeiten nachdenken, mit dem Stress fertigzuwerden, von dem sie der Meinung sind, dass er durch die Technologie verursacht wird. Sie reden über Filter und intelligente Programme, die sich mit den Nachrichten befassen, die sie nicht sehen wollen. Hope und Audrey, auch wenn sie vom Alter her dreißig Jahre auseinanderliegen,
betrachten beide die Verständigung über Textnachrichten als Lösung des Telefon-»Problems«. Und beide definieren »Stress« auf dieselbe Weise – als Druck, der in Echtzeit entsteht. Eingedenk dieses Umstands erklärt meine Wandergenossin, sie werde versuchen, ihren Mann auf das Nachrichtenschreiben »umzupolen«. Dann werden noch mehr Nachfragen eingehen; er wird ihr mehr Nachrichten schicken können, als er Anrufe tätigen kann. Aber sie muss dann nicht »im selben Augenblick« reagieren.
Gemischte Gefühle über das Trommelfeuer der elektronischen Kommunikation bedeuten nicht mangelnde Zuneigung zu den Menschen, mit denen wir in Kontakt sind. Aber eine Flut von Nachrichten macht es unmöglich, noch Augenblicke des Alleinseins zu finden, Zeit, in der einem andere weder ihre Abhängigkeit noch ihre Zuneigung zeigen. Wenn wir für uns allein sind, stoßen wir die Welt nicht zurück, sondern haben Raum, unseren eigenen Gedanken nachzuhängen. Aber wenn man sein Telefon immer parat hat, kann das Bedürfnis, in Ruhe gelassen zu werden, verdächtig nach Sich-Verstecken aussehen.
Wir füllen unsere Tage mit permanenter Kontaktbereitschaft aus und versagen uns die Muße zum Nachdenken und Träumen. Beschäftigt bis an den Rand der Erschöpfung, schließen wir einen modernen faustischen Pakt. Er lautet ungefähr so: Wenn wir allein sein können, während wir Kontakt herstellen, können wir mit dem Zusammensein umgehen.
Für eine sechsunddreißigjährige Krankenschwester an einem großen Bostoner Krankenhaus fängt der Tag mit einem Besuch bei ihrer Mutter an. Dann kauft sie Lebensmittel ein, macht zu Hause sauber und bereitet sich auf die Arbeit vor. Nach einer Acht-Stunden-Schicht und dem Abendessen ist es nach einundzwanzig Uhr. »Ich bin gar nicht in der Lage, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen«, sagt sie. »Ich habe nicht mal mehr die Energie, Leute per
Telefon ausfindig zu machen. Meine Freundinnen von der Schwesternschule sind übers ganze Land verstreut. Ich verschicke ein paar E-Mails. Ich logge mich bei Facebook ein und fühle mich weniger allein. Selbst wenn jemand nicht da ist, also, zur selben Zeit wie ich, kommt es mir vor, als wären sie da. Ich hab ihre neuen Bilder, weiß, was sie zuletzt gemacht haben. Ich fühle mich aufgefangen.« Eine zweiundfünfzigjährige Witwe ist aufgewachsen mit ehrenamtlicher Arbeit und damit, dass Leute zum Nachmittagstee vorbeikamen. Jetzt arbeitet sie in Vollzeit als Büroleiterin. Noch nicht an ihren neuen Tagesablauf gewöhnt, sagt sie, sie sei »ein bisschen erstaunt« festzustellen, dass sie aufgehört habe, Freunde anzurufen. Sie sei damit zufrieden, E-Mails und Facebook-Nachrichten zu verschicken. »Ein Anruf kommt mir vor wie eine Störung, als würde ich mich meinen Freunden aufdrängen. Aber ich fühle mich selbst auch gestört, wenn man mich anruft … Nach der Arbeit möchte ich nach Hause gehen, mir auf Facebook ein paar Fotos meiner Enkelkinder anschauen, ein paar E-Mails versenden und mich zugehörig fühlen. Ich bin müde. Ich habe keine Lust auf Leute – ich meine persönlich.« Beide Frauen fühlen sich bedrängt durch etwas, das eigentlich eine Zuwendung ist: ein Telefonanruf. Sein großer Fehler: Er kann nur in Echtzeit stattfinden. Die Flucht in die E-Mail beginnt als »Lösung« für die Müdigkeit.
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