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Verloren unter 100 Freunden

Verloren unter 100 Freunden

Titel: Verloren unter 100 Freunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherry Turkle
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befinden sich Orte – von Spielen bis zu virtuellen Gemeinschaften –, wo man einen Avatar besitzt, wo die Leute hingehen, um sich zu finden oder zu verlieren oder bestimmte Aspekte
ihrer selbst zu erforschen. Auf diesem Spektrum sind die Dinge, wie wir gesehen haben, nie klar umrissen. Wie Audrey sich ausdrückte, ist ein Facebook-Profil »ein Avatar von mir«. Und wenn man in einer Beatles-Simulation Ringo Starr spielt, fühlt sich der Avatar vielleicht an wie ein zweites Ich. In der Simulationskultur werden wir zum Cyborg, und es kann schwierig sein, dann wieder zu weniger zurückzukehren.

11. Kapitel
Reduktion und Täuschung
    Mitte der Neunzigerjahre erschuf der Computerwissenschaftler und Technologie-Utopist Raymond Kurzweil einen Avatar, Ramona. Seinerzeit hatten die meisten Teilnehmer an Rollenspielen im Internet textbasierte Avatare, komplett mit langen Beschreibungen ihrer Geschichte und ihrer Beziehungen sowie der Kleidung, die sie trugen. Kurzweil aber blickte voraus in eine neue Ära. Er wollte sich nicht nur als, sagen wir, Grace Slick beschreiben, er wollte Grace Slick sein . Kurzweil schuf eine virtuelle Welt und baute einen wunderschönen sexy Avatar, der vor einer psychedelischen Kulisse seiner Wahl sang. Das war Ramona. Kurzweil trug derweil eine Hightech-Ausrüstung, die jede seiner Bewegungen festhielt und auf Ramona übertrug. Seine eigene Stimme wurde in Ramonas weibliche Stimme umgewandelt. Es war faszinierend, Kurzweil dabei zuzusehen, wie er Ramona spielte. Und er war selbst fasziniert. Für ihn war es nach eigenem Bekunden eine Gelegenheit, darüber nachzudenken, welche Schwierigkeiten sich auftun, wenn man in einen fremden Körper schlüpft. Um ein Avatar des anderen Geschlechts zu werden, musste Kurzweil seine Bewegungen neu einüben – die Art, wie er den Kopf hielt, seine Gesten. Heute sind bestimmte Aspekte dieser einst so revolutionären Erfahrung alltäglich geworden. Wir haben sie in Spiele verwandelt.
    Eines dieser Spiele, The Beatles: Rockband, kam im September 2009 heraus und wurde von der New York Times als »transformatives Unterhaltungserlebnis« gepriesen. 1 Wie bei der älteren Version Rock Band haben die Spieler Steuergeräte in Form von Musikinstrumenten
und Mikrofonen in der Hand, die die Klänge, die sie erzeugen, in die Musik der Bildschirm-Avatare verwandeln. Das Ziel des Spiels besteht darin, die Instrumente und den Gesang der Beatles zu simulieren. Angeblich öffnen solche Spiele Leuten, die kein Talent oder keine Gitarre besitzen, den Zugang zur Musik. Bleibt nur zu hoffen, dass Kinder, die mit solchen Spielen üben, sich am Ende ein echtes Instrument wünschen.
    Wie Kurzweil mit Ramona hat man einen Avatar, dem man etwas beibringen kann, und man hat alles zur Verfügung, was einem im Kopf herumspukt. Das Spiel versetzt einen in die Lage, nicht nur einen Rockstar zu imitieren, sondern sich auch wie einer zu fühlen, mit allen dazugehörigen Träumen und Fantasien.
    In Online-Welten und Online-Rollenspielen mit vielen Mitspielern hat man Virtuosität und Fantasie – und noch etwas anderes: Die Rolle versetzt einen mitten in eine neue Gemeinschaft mit virtuellen besten Freunden und dem Gefühl der Zugehörigkeit. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Leute sich an einem virtuellen Ort wohler fühlen als an einem echten, weil sie das Gefühl haben, in der Simulation ihr besseres und wahreres Ich zu zeigen. Und wer wollte bei all dem noch eine Lanze für das Echte brechen?
    Ein ernsthaftes Spiel: ein zweites Leben leben
    Als ich in Second Life einstieg, wurde ich aufgefordert, mir einen Namen für meinen Avatar auszusuchen. Ich habe mir schon oft vorgestellt, einen anderen Vornamen als Sherry zu haben. Sherry war mir nie ganz richtig vorgekommen. Irgendwie ist dieser Name in der Welt meiner ersten Highschool-Jahre steckengeblieben. Als ich dann jedoch endlich die Möglichkeit hatte, unter einem anderen Namen aufzutreten, war ich irritiert. Meinen richtigen Vornamen
abzulehnen war leicht. Nun erwies sich, dass es deutlich schwieriger war, einen anderen zu finden. Zum Glück bot mir das Programm einige Vorschläge zur Auswahl an. Ich war erleichtert, als ich einen Namen fand: Rachel. Irgendetwas an diesem neuen Namen zog mich an. Aber was? Mit einer so simplen Frage wurde das Leben auf dem Bildschirm zu einem Identitäts-Workshop. 2
    Online-Welten und Rollenspiele fordern einen auf, ein Ich zu konstruieren, zu überarbeiten und zu präsentieren. Doch in diesen

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