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Verloren unter 100 Freunden

Verloren unter 100 Freunden

Titel: Verloren unter 100 Freunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherry Turkle
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Und sie endet mit Menschen, die Probleme haben, sich auf ein Telefongespräch zu konzentrieren, ganz zu schweigen von unmittelbar persönlich anwesenden Menschen.
    Dan, ein Juraprofessor Mitte fünfzig, erklärt mir, er »störe« seine Kollegen nie bei der Arbeit. Er ruft sie nicht an; er fragt sie nicht, ob sie sich sehen wollen. Er sagt: »Vielleicht sind sie ja gerade beschäftigt. Vielleicht ist der Zeitpunkt schlecht.« Ich frage ihn, ob dieses Verhalten neu ist. Er sagt: »O ja, früher sind wir zusammen durch die Gegend gezogen. Das war schön.« Dan begründet seine Ansicht, dass der einstige kollegiale Umgang miteinander jetzt eine Störung
darstelle, indem er sagt: »Die Leute haben jetzt mehr zu tun.« Doch dann überlegt er und korrigiert sich: »Ich bin da nicht ganz ehrlich: Es ist auch so, dass ich jetzt nicht mehr mit den anderen reden will. Ich will nicht gestört werden. Ich glaube aber, ich sollte es wollen, das wäre schön, aber es ist einfacher, mich auf meinem Blackberry mit ihnen zu unterhalten.« 10
    Diese weit verbreitete Verhaltensweise macht Hugh, fünfundzwanzig, das Leben schwer. Er sagt: »Ich brauche mehr, als E-Mails und Facebook mir bieten können.« Wenn seine Freunde keine Zeit haben, sich mit ihm zu treffen, möchte er wenigstens am Telefon mit ihnen reden, damit er »die volle Aufmerksamkeit des ganzen Menschen« hat. Aber wenn er mit seinen Freunden per SMS einen Anruf verabreden will, sagt Hugh, dann muss er ihnen genau erklären, was er erwartet: Er möchte »ungeteilte Telefonzeit« haben. Er erklärt: »In dieser Zeit ist der andere bereit, keine Zwischenanrufe anzunehmen und sich auch nicht mit etwas anderem zu beschäftigen.« Er sagt, er fühle sich äußerst respektlos behandelt, wenn er mit einem Freund telefoniere und merke, dass der andere nebenher E-Mails schreibe oder auf Facebook sei, etwas, das häufig passiere. »Ich mag es nicht einmal, wenn er dabei unterwegs ist. Ich kann keine ernsthafte Unterhaltung mit jemandem führen, der gerade von einer Besprechung zur anderen hetzt. Ungestörte Telefonzeit ist am schwersten zu bekommen. Die Leute wollen keine Verpflichtung eingehen.«
    Ein paar junge Leute – Verfechter der Textnachricht und des Anrufs zur »Kontaktaufnahme« – schildern ähnliche Empfindungen über die Schwierigkeit, »volle Aufmerksamkeit« zu erlangen. Ein sechzehnjähriger Junge erzählt: »Ich sage den Leuten immer: Redet mit mir . Jetzt bin ich dran.« Ein anderer versucht, seine Freunde dazu zu bringen, ihn vom Festnetz aus anzurufen, weil das bedeutet, dass sie sich an einem bestimmten Ort befinden und der Empfang
gut ist. Er sagt: »Das Beste ist, wenn man jemand rumkriegt, einen vom Festnetz aus zurückzurufen … Das ist am besten.« Ein ungestörtes Telefongespräch im Festnetz war einmal etwas ganz Alltägliches. Jetzt ist es etwas Exotisches, ein wahres Kronjuwel.
    Hugh erzählt, dass er es in letzter Zeit beinahe bedaure, wenn er es schaffe, ungeteilte Telefonzeit zu bekommen. Mit seiner Forderung, die Leute sollten sich hinsetzen und nichts tun als mit ihm zu reden, habe er die Messlatte zu hoch gehängt. »Sie sind enttäuscht, wenn ich ihnen dann nicht erzähle, dass ich Depressionen habe, darüber nachdenke, mich scheiden zu lassen, oder gefeuert worden bin.« Er lacht. »Wenn du um ungestörte Telefonzeit bittest, solltest du dafür triftige Gründe haben.«
    Die Hemmschwelle, jemanden anzurufen, ist so hoch, dass sich die Leute selbst dann zurückhalten, wenn sie etwas Wichtiges mitzuteilen haben. Tara, die zugibt, ihre Freunde per Textnachricht »abzufertigen«, erzählt mir die Geschichte einer gefährdeten Freundschaft. Ungefähr vier Mal im Jahr geht Tara mit Alice essen, einer ehemaligen Kommilitonin aus dem Jurastudium. Kürzlich schickten die beiden sich diverse Nachrichten, um einen Termin zu vereinbaren. Nach vielen Fehlstarts einigten sie sich schließlich auf einen bestimmten Tag und ein Restaurant. Alice brachte keine guten Neuigkeiten mit. Ihre Schwester war gestorben. Obwohl sie viele tausend Kilometer voneinander entfernt gewohnt hatten, hatten die beiden Schwestern jeden Tag miteinander telefoniert. Ohne ihre Schwester und die Telefongespräche mit ihr fühlt sich Alice nicht mehr geerdet.
    Als sie ihr beim Essen vom Tod ihrer Schwester erzählte, war Tara verstimmt, ja geradezu aufgebracht. Sie und Alice hatten monatelang Textnachrichten hin- und hergeschickt. Warum hatte die andere ihr nichts davon

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