Verloren unter 100 Freunden
in den Stunden, in denen er ihr beisteht. Er glaubt, dass ihre Beziehung etwas bedeutet, etwas wert ist – dies gilt allerdings nicht, wenn sie die Depressive nur »spielt«. Oder wenn sie ein Er ist.
Joel ist bewusst, dass er in seiner Beziehung zu Noëlle auf einem dünnen Seil balanciert. Doch er räumt ein, dass die Regeln nicht eindeutig sind. Es gibt keine Abmachung, die festlegt, dass ein Avatar »ehrlich« sein muss, was die Person betrifft, die ihn spielt. Manche Leute haben drei oder vier Avatare, um die Erfahrung verschiedener Aspekte ihrer Persönlichkeit machen zu können – eines Geschlechts, das anders ist als ihr eigenes, eines Alters, das ihrem nicht entspricht. Joel weiß das alles. Aber er bewegt sich in eine andere Richtung. Neuerdings enthalten seine realen Visitenkarten auch seinen Avatar-Namen in Second Life.
Es liegt nahe, dass Joel nicht gern telefoniert. Wenn er einen Anruf tätigt oder entgegennimmt, wird er ungeduldig und nervös. Er sagt, dass ein Telefongespräch eine »zu große Unterbrechung« sei; er mailt lieber oder verfasst IMs. Second-Life-Avatare können in Echtzeit per Text oder Sprache miteinander kommunizieren, aber weil die Spieler so oft aus- und wieder einsteigen, ist das eine Welt der asynchronen Verständigung. Während ich Joel in Second Life zusehe, geht er hunderte von Nachrichten durch, als gleite er durch einen vielschichtigen Raum. Für ihn sind diese Nachrichten, selbst diejenigen, die schon vor Stunden oder Tagen abgeschickt wurden, alle »von eben«. Er erlebt das Asynchrone als synchron. Er beherrscht eine Art Informations-Choreografie. Er jagt durch Pop-up-Nachrichten und komplexe Wortwechsel und reitet auf Informationswellen, anmutig und beherrscht. Er braucht nur ein oder zwei Sätze einer Nachricht zu lesen, bevor er mit der Antwort anfängt.
Während er ohne Unterbrechung arbeitet, fühlt er sich sowohl verbunden als auch wohltuend allein.
In diesem Zustand befindet sich Joel, als er seinen Avatar »parkt« und körperlos durch die Second-Life-Welt fliegt. Sein »Ich« im Spiel ist jetzt nicht mehr Rashi. Joel erklärt, wenn er so fliege, werde er zur Kamera; sein »Ich« wird zu einem körperlosen »Auge«. Scherzhaft bezeichnet er diese Fähigkeit, »körperlos« umherzufliegen, als »außeravatarisches Erlebnis«. Dann bringt er eine ethische Streitfrage zur Sprache: Nur wenige können so fliegen wie er – Leute, die Experten sind. Und wenn er es tut, können andere ihn nicht sehen oder merken, dass er sie beobachtet. Joel räumt dieses Problem ein, aber es beunruhigt ihn nicht. Er fühlt sich wohl mit diesem Privileg, weil er weiß, dass er es nicht missbraucht. Er sieht sich selbst als freundlichen Aufpasser. Sein »Auge« gehört zu einem Superhelden, der seine Stadt auf dem Berg bewacht. Und außerdem, sagt Joel, ist dies nicht das Leben. Es ist ein Spiel mit einer Reihe von Fähigkeiten, die jeder erlernen kann. Als unsichtbares Auge herumzufliegen ist eine davon. Er hat sie sich hart erarbeitet, und das gibt ihm das Recht, etwas zu tun, was man in anderem Zusammenhang vielleicht als Bespitzelung auffassen könnte.
Maria, eine dreiunddreißigjährige Finanzanalystin, kann auch als »Auge« in Second Life herumfliegen, aber was ihr an dieser virtuellen Welt am meisten Spaß macht, ist, dass Leben hier großgeschrieben wird. »Das Schöne an Second Life ist, dass man in kurzer Zeit so viel erleben kann«, sagt sie. Alles läuft viel schneller ab. Gefühle ballen sich: »Die Zeit zwischen Kennenlernen, sich verlieben, heiraten und dramatischer Trennung … das kann alles in sehr schneller Reihenfolge passieren … es ist einfach, in Second Life Leute dazu zu bringen, über ihre alltägliche Langeweile zu reden. Aber in Second Life gibt es Anregungen in Hülle und Fülle.« Maria erklärt, dass »diese Welt die Leute dazu verleitet, emotionale Höhepunkte
überzubewerten. Liebe, Hochzeit, Scheidung – eine Menge emotionaler Höhepunkte werden auf eine Stunde in der virtuellen Welt komprimiert … Man nimmt ständig an irgendetwas Großartigem teil.« Man hört ständig von den Leuten: »Ich möchte mich (virtuell) umbringen, ich möchte heiraten, ich habe mich verliebt, ich möchte zu einer Orgie gehen.« Joel und Maria sagen beide, dass sie Zeit zum »Dekomprimieren« brauchen, wenn sie das Spiel wieder verlassen. Nach Marias Ansicht ist Second Life nicht wie das normale Leben, aber vielleicht wie das Leben auf Speed. Und doch bezeichnen
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