Verloren unter 100 Freunden
zurechtbasteln können. Er hätte ihm ein martialisches Auftreten oder die Ausstrahlung eines Genies wie Einstein verpassen können. Stattdessen baute er einen Avatar, der denselben Herausforderungen ausgesetzt ist wie er selbst in der physischen Realität. Sein Avatar muss ebenso wie der Mensch dahinter häufig Begabung und Selbstdisziplin beweisen. Denn obwohl er auch ein förmliches Auftreten zur Schau stellen kann, ähnelt Rashi doch eher Dumbo als dem Mann im grauen Flanell. Und so arbeitet Rashi, genau wie Joel, häufig mit anderen zusammen, deren erster Eindruck ist, dass ihm die nötige Ernsthaftigkeit fehlt, und die dann von seiner Hingabe und technischen Virtuosität verblüfft sind.
Schon von den ersten Online-Rollenspielen an gab es Menschen, die den virtuellen Raum als wesentlich für ihr Leben außerhalb des Bildschirms ansahen, weil ihnen die Online-Erfahrungen beim Erwachsenwerden halfen. Ein junger Mann erzählte mir, wie er durch
sein Auftreten im Netz den Umgang mit Freunden und Eltern in der wirklichen Welt übte. Eine junge Frau, die bei einem Autounfall ein Bein verloren hatte und eine Prothese benötigte, wollte ihr Sexualleben wieder aufnehmen, war aber noch unsicher und ängstlich. Sie baute sich einen Avatar mit einer Beinprothese und begann virtuelle Liebesaffären. Online übte sie, über ihre Prothese zu sprechen und sie abzulegen, bevor sie mit ihren virtuellen Liebhabern ins Bett ging. Durch diese Erfahrung mit ihrem virtuellen Körper fühlte sie sich in ihrem echten viel wohler. Ein weiterer leidenschaftlicher Spieler beschrieb sich als zu schüchtern. Online übte er, energischer aufzutreten, indem er eine Frau »Typ Katharine Hepburn« spielte, wie er sich ausdrückte. Mit der Zeit war er in der Lage, auch in sein tägliches Leben als Mann mehr Selbstsicherheit zu bringen. Das ist die Art Crossover-Effekt, den Joel zu erzielen versucht. In der Virtualität entwickelt er Fähigkeiten, die er in der Realität nutzen möchte.
Wenn man über das Internetleben nachdenkt, ist es hilfreich, zwischen dem, was Psychologen als »ausagieren« und dem, was sie als »durcharbeiten« bezeichnen, zu unterscheiden. Beim Ausagieren nimmt man die Probleme, die man in der physischen Realität hat, und drückt sie immer wieder im Virtuellen aus. Das ist viel Wiederholung und wenig Entwicklung. Beim Ausarbeiten nutzt man das Online-Leben, um sich den Problemen der Realität zu stellen und nach neuen Lösungen zu suchen. Auf diese Weise setzt Joel seinen Avatar Rashi ein. Er hat sich einen Raum geschaffen, wo er lernen kann, Humor und Ernst zu kombinieren.
Schon seit seiner Highschool-Zeit hat Joel mit dem Aufbau von Internetseiten Geld verdient. Es macht ihm Spaß, Abgabetermine zu unterschreiten und für seine Kunden durch geschickte Gestaltung Geld einzusparen. Joel führt das auf seine Erfahrungen als Teenager in dem, was er »Hackerkultur« nennt, zurück. Damals
fühlte er sich als Teil einer Gemeinschaft, die nach einem strengen ethischen Kodex arbeitete. Die Hacker spielten sich gegenseitig Streiche – das waren die »Hacks« –, aber sie behelligten nie Leute außerhalb ihrer Gruppe, die sich nicht wehren konnten. (Ein klassischer Hack konnte es sein, einen Computer scheinbar abstürzen zu lassen, nur um ihn dann wieder zum Leben zu erwecken, wenn ein anderer Hacker, der eingeweiht war, eine bestimmte Taste drückte.) Wenn ein junger Hacker sich nicht an diese Regeln hielt, schritten die älteren ein und brachten die Sache wieder in Ordnung. Joel beklagt den Wegfall der Hacker-Ethik. In den virtuellen Welten von heute werde viel mehr Unfug getrieben. Clevere Leute, die sich der Gemeinschaft nicht verpflichtet fühlen, sind in der Lage, echten Schaden anzurichten. In Second Life ist Joel durch Rashi zu einem Verfechter der Hacker-Standards »alter Schule« geworden. Sein Elefant ist da, damit niemand aus der Reihe tanzt. Eigentum muss respektiert werden. Die Arbeit anderer Leute darf nicht vernichtet werden. Rashi mit seinen Elefantenohren und traurigen Augen ist ein zerzauster Superheld, aber er macht seine Sache gut.
Joel kam zu Second Life, sobald es angekündigt wurde. Er wurde Beta-Tester, das heißt, er arbeitete mit dem Programm, noch ehe es auf den Markt kam. Seine Aufgabe war es, Programmfehler beseitigen zu helfen und den Auftritt so gut wie möglich zu gestalten. Joels erster Eindruck von Second Life war negativ. »Ich mochte es nicht. Es war albern. Zu vorhersehbar. Gut für
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