Verloren unter 100 Freunden
Darstellungen bricht, wie wir es bei den sozialen Robotern gesehen haben, noch etwas anderes durch: Wenn wir unseren Avataren Leben einhauchen, drücken wir damit unsere Hoffnungen, Stärken und Verletzlichkeiten aus. 3 Sie sind eine Art natürlicher Rorschach-Test. 4 Das gibt uns Gelegenheit zu erkennen, was wir uns wünschen und was uns vielleicht fehlt. Aber darüber hinaus können wir an Blockaden und Unsicherheiten arbeiten. Der Avatar wird dann zur »Übung« für das wirkliche Leben. Wie gesagt: Unser Leben auf dem Bildschirm mag ein Spiel sein, aber es ist ein ernsthaftes Spiel.
Natürlich schmieden die Leute keine Online-Identitäten mit der Vorstellung, dass sie an einer möglicherweise »therapeutischen« Übung teilnehmen. Das Experimentieren und die Selbstreflexion schleichen sich langsam ein. Man fängt an, einen Avatar aufzubauen, um in einem Online-Spiel mitzuspielen oder einer Online-Gemeinschaft beizutreten; man hält es für eine einfache Sache, aber dann ist es plötzlich gar nicht so leicht. Zum Beispiel kann man sich nicht für einen Namen entscheiden.
Joel, sechsundzwanzig, hat sich über solche Fragen der Identität und Online-Darstellung viele Gedanken gemacht. Für ihn ist Second Life ganz buchstäblich sein zweites Leben. Persönlich wirkt Joel – schlaksig, lässig gekleidet, dunkler Haarschopf – weit jünger als er ist. Noch vor ein paar Jahren störte Joel seine jugendliche Erscheinung. Er hatte das Gefühl, die Leute würden ihn nicht richtig
ernst nehmen. Nun, nachdem er glücklich verlobt ist und in einem Beruf Fuß gefasst hat, der ihm Spaß macht, kann er auch mit seinem Äußeren seinen Frieden machen. Zwar wünscht er sich noch immer, älter auszusehen, aber er räumt ein: »Ich nehme an, letzten Endes hat es auch sein Gutes. Unterschätzt zu werden hat Vorteile.« Joel wuchs in der Hoffnung auf, Künstler zu werden, entschied sich dann aber aus pragmatischen Gründen, Computerwissenschaften zu studieren. Inzwischen ist er ein begabter und gesuchter Programmierer.
Joel leitet ein Software-Entwicklungsteam in einem führenden Biotechnologie-Unternehmen. Die Arbeit fordert ihn, aber seine Suche nach kreativeren Möglichkeiten zu programmieren brachte ihn zu Second Life. Dort hatte Pete, den wir schon kennen gelernt haben, seine virtuelle Liebesgeschichte mit dem hübschen Avatar Jade. Joel interessiert sich nicht für eine Second-Life-Romanze. Er wünscht sich einen Ort, wo er sein Können als Künstler und Anführer ausprobieren kann. Im wirklichen Leben fühlt er sich in keiner von beiden Rollen wirklich bestätigt. Aber beide sind Bestandteile dessen, was er sein möchte. Im Schutz der Online-Welt spielt er sie, um zu dem zu werden, der er gerne wäre.
Der Anthropologe Victor Turner ist der Auffassung, dass wir alle Freiheiten haben, unsere Identität an Orten außerhalb unserer normalen Lebensroutine zu erforschen, Orten, die ein »Zwischendrin« darstellen. Turner nennt sie liminal , vom lateinischen Wort für »Schwelle« abgeleitet. Diese Orte befinden sich buchstäblich an der Grenze der Dinge. 5 Thomas Manns Fantasiewelt im Zauberberg liegt außerhalb von Zeit und Raum, und genau das ist Second Life für Joel: ein Ort an der Grenze zwischen Wirklichkeit und Fantasie. Während sich viele in Second Life einen Avatar bauen, der sexy, elegant und selbstbewusst ist – die Verkörperung einer gewissen Art von Ideal-Ich –, geht es bei Joel in eine andere Richtung. Er baut eine
Fantasy-Version dessen, wie er sich selbst sieht, mit allen Fehlern und Schwächen. Er macht aus seinem Avatar einen winzigen Elefanten namens Rashi, eine Mischung aus süßem Schlappohr und bodenständigem Praktiker. Auf Second Life hat Rashi eine einnehmende Seite, wird aber auch als Künstler und Programmierer geachtet. Das heißt, Joel kreiert an seiner Tastatur wunderschöne Bauten und virtuelle Skulpturen; auf Second Life bekommt sein Avatar Rashi die Anerkennung dafür. Über die künstlerische Tätigkeit hinaus übernimmt Joel (als Rashi) aber auch Verantwortung. Er organisiert virtuelle Bauvorhaben und Ausstellungen. Rashi ist die Art von Manager, der Joel gern sein möchte: streng, aber immer ruhig und nicht autoritär. Auch wenn er ein Elefant ist, bietet Rashi einem Mann, der seine Identität ergründen will, viele Möglichkeiten, seine Begabungen als Künstler und Manager unter einen Hut zu bringen.
Joel hätte sich auf Second Life auch einen großen, gebieterischen Avatar
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