Verloren unter 100 Freunden
Technikfreaks.« Er stieg für eine Weile aus, kam dann aber auf der Suche nach einem kreativen Raum zurück. Er hatte von einer Gruppe von »Konstrukteuren« gehört – künstlerisch veranlagten Leuten, die die Second-Life-Programmiersprache benutzten, um außergewöhnliche und unkonventionelle virtuelle Architektur und Kunstinstallationen zu entwerfen. In Second Life haben diese Konstrukteure einen Rang; sie haben Second Life zu einer renommierten Adresse für Künstler
gemacht. Im Laufe der Zeit fand Joel dort eine aufgeschlossenere Künstlergemeinde als in der Realität. Er stürzte sich in die Arbeit der Gruppe. »Ich wollte es einfach machen«, sagt er. »Und ich wollte es gut machen.«
Das Leben auf dem Bildschirm
Bei Second Life ist Rashi ein Meister-Architekt, der zu jedem Projekt irgendeine ausgefallene Idee beisteuert. Außerdem ist er sehr nett. Das bedeutet, dass Joel durch Rashi ein erfülltes gesellschaftliches Leben hat. Es bringt ihn in Kontakt mit einer ganzen Reihe von Leuten – Künstlern, Intellektuellen, Schriftstellern, Geschäftsleuten –, denen er normalerweise nicht begegnen würde. Rashi wird oft zu Partys eingeladen, auf denen Avatare essen, trinken, tanzen und sich unterhalten. Immer wenn er an einer offiziellen Veranstaltung teilnimmt, macht er ein schönes (Online)-Album von der Veranstaltung und schickt es als Geschenk an seinen Avatar-Gastgeber oder seine Avatar-Gastgeberin.
In der Woche bevor Joel und ich uns trafen, nahm Rashi an einer Second-Life-Hochzeit teil. Zwei Avatare wollten heiraten, und man hatte ihn gefragt, ob er der Ringträger sein wolle. Joel nahm mit Vergnügen an und entwarf für diese Gelegenheit einen kunstvollen Elefanten-Smoking. Weil der Dresscode auf der Hochzeitseinladung »kreative Gesellschaftskleidung« vorschrieb, machte Joel den Smoking aus irisierendem buntem Stoff. Er zeigt mir das Album aus Bildschirmschnappschüssen, das er nach der Feier zusammenstellte und Braut und Bräutigam als Geschenk übersandte. Rashis Großzügigkeit zieht die Leute ebenso an wie seine emotionale Gelassenheit. Im realen Leben ist Joel ein zufriedener Mensch, und dieser Gemütszustand springt auch auf das Spiel über. Vielleicht ist es diese
Ruhe, die Noëlle angezogen hat, einen Second-Life-Avatar, der eine depressive Französin darstellt. Noëlle hat sich erst kürzlich mit Rashi über Selbstmord unterhalten, das heißt, Selbstmord in der Realität. Joel und ich sitzen an seinem Computer, einen Tag nachdem er viele Stunden damit verbracht hat, »ihr gut zuzureden«.
Noëlle erzählt Rashi, dass die Gespräche mit ihm ihr helfen, und das macht Joel sehr glücklich. Er macht sich auch Sorgen um Noëlle. Manchmal fühlt er sich als ihr Vater, dann wieder als ihr Bruder. Aber da ihre gesamte Beziehung in Second Life stattfindet, ist die Frage nach Noëlles Authentizität unklar. Neuerdings denkt Joel allerdings viel darüber nach. Wer ist sie wirklich? Unterhält er sich mit einer depressiven Frau, die sich den ebenfalls depressiven Avatar Noëlle angeschafft hat? Oder ist die Person hinter Noëlle jemand ganz anderer, der lediglich eine depressive Frau »spielt«? Joel sagt, dass es in Ordnung sei, wenn sich herausstellte, dass Noëlle gar keine Französin ist. Das würde ihm nicht wie Betrug vorkommen. Aber wenn er Stunden damit zugebracht hätte, einer depressiven Frau, die behauptet, sich umbringen zu wollen, gute Ratschläge zu erteilen, nur um dann festzustellen, dass es »nur ein Spiel« war – das würde ihm etwas ausmachen. Auch wenn seine Ratschläge von Rashi an Noëlle weitergegeben werden, sind sie seiner Meinung nach doch von ihm als Mensch an die vorgeblich depressive Frau gerichtet, die Noëlles Puppenspieler ist.
Im Spiel macht Joel es sich zur Regel, andere nach Internetmaßstab zu beurteilen. Das heißt, er bezieht sich auf das, was ein Avatar in der Online-Welt darstellt. Und so möchte auch er von anderen gesehen werden. Er möchte behandelt werden wie ein drolliger Elefant, der ein guter Freund und ein virtuoser Programmierer ist. Und doch hat Joel mit Noëlle über den möglichen Tod der echten Person hinter dem Avatar gesprochen. Und obwohl er nicht glaubt, dass Noëlle genauso ist, wie sie auftritt – zumindest heißt sie sicher
nicht Noëlle, so wenig, wie er Rashi heißt –, verlässt er sich darauf, dass sie ihrem Avatar genügend ähnelt, dass ihre Beziehung die Zeit wert ist, die er sich dafür nimmt. Er jedenfalls ist »echt«
Weitere Kostenlose Bücher