Verloren unter 100 Freunden
nicht mehr auftauchen und ich nie wieder etwas von ihm hören könnte«. Damit würde Ian auf einen wahrscheinlich erfundenen Vornamen und die Erinnerung an viele gefühlvolle Unterhaltungen zusammenschrumpfen.
Hannah denkt wehmütig an Ian. »Auch wenn ich das Gefühl habe, Ian zu kennen, glaube ich doch nicht, dass ich ihn so kenne wie jemanden im wirklichen Leben.« Manchmal sieht sie sich in einer engen Beziehung mit ihm, und manchmal kommt ihr das alles vor wie ein Kartenhaus. Mit dem Gesichtsausdruck eines Menschen, der festgestellt hat, dass er eins der Newton’schen Gesetze nicht mag, sagt Hannah: »Ich finde, es ist ein bisschen traurig, aber um eine echte Beziehung zu haben, muss es einen Punkt geben, wo man mit seinen Sinnen ist und irgendwas erlebt, was der andere mit seinem Körper macht, wie einen anschauen oder einem zuhören.« Hannah verstummt. Als sie wieder etwas sagt, ist ihre Stimme leise. Da ist noch etwas anderes. Die Zeit auf dem IRC-Kanal hat sie Nerven gekostet. Die Leute dort sind nicht nett. »Ich kann es nicht leiden, mit fiesen Leuten befreundet zu sein«, sagt sie. Ihre Online-Freunde »machen sich über Neue lustig, treten und beschimpfen sie«, und manchmal wenden sie sich sogar gegeneinander. Hannah glaubt nicht, dass ihr das auch passieren wird. Aber das ist nicht völlig beruhigend. Denn sie ist ein Teil des Stammes geworden, indem sie sich wie dessen Mitglieder benommen hat. Sie sagt: »Manchmal mache ich im Internet tatsächlich grausamere Scherze, als ich es im wirklichen Leben tun würde. … Das hat mich dazu gebracht, mich zu fragen: ›Will ich überhaupt weiter mit diesen Leuten befreundet sein?‹ Ich hab darüber nachgedacht, wie gemein sie
sein können. Das ist ein bisschen so, als wenn man in der Schule zu einer Clique gehört, die Leute, die sie nicht dabeihaben wollen, schikanieren – da würde ich mir sagen, das ist ziemlich unfreundlich, und warum willst du überhaupt mit Leuten, die so gemein sind, befreundet sein?«
Hannah glaubt nicht, dass ihre »netteren« Schulfreunde so anders sind als ihre Online-Freunde. Wie Marcia schreibt auch sie deren Grausamkeit dem Internet zu, weil es »das Schlimmste im Menschen zum Vorschein bringen kann. … Der Zorn wird viel heftiger. … Es gibt keine Bremse.« Und jetzt verbringt sie nahezu zwanzig Stunden in der Woche damit, die Anerkennung von Leuten zu suchen, deren Verhalten sie verwerflich findet. Und deren Benehmen sie nacheifert, um sich bei ihnen beliebt zu machen. Das ist alles ungeheuer anstrengend. »Freundschaft im Internet«, sagt Hannah, »ist viel aufwendiger als im wirklichen Leben.« Und am Ende, wenn sie allen Ansprüchen nachgekommen ist, weiß sie eigentlich gar nicht, was sie hat.
Hannah dachte, Internet-Freundschaften würden ihr das Gefühl geben, ihr gesellschaftliches Leben besser im Griff zu haben. Sie habe »ursprünglich angenommen«, sagt sie, dass sie ins Internet gehen würde, wenn ihr gerade danach wäre, und ohne schlechtes Gewissen abschalten könnte, wenn sie zu tun hätte. Das erwies sich aber als Irrtum. Ihre Internet-Freunde werden böse, wenn sie nicht im Chatroom auftaucht. Und auch sonst sind sie ziemlich anstrengend. Auf IRC wird schnell geredet und geurteilt. Man fühlt sich unter Druck, geistreich zu sein. Hannah sagt: »Ich laufe in der Schule herum und überlege, worüber ich mich später mit ihnen unterhalten könnte.« Daneben hat sich Hannah kürzlich bei Facebook eingeloggt, was nur ihren Arbeitsaufwand erhöht. Die meisten Cranston-Schüler sind sich darüber einig, dass die Leute, die einen im wirklichen Leben am besten kennen – Schulfreunde zum Beispiel –,
nachsichtig sein werden, wenn man Facebook vernachlässigt. Die strengeren Richter sind entferntere Bekannte oder Leute, die man in seinen Kreis hineinholen möchte. Das können beliebtere Schüler sein, Schüler von anderen Highschools oder solche, die bereits am College sind. Der Konsens über sie: »Man weiß, dass sie sich all dein Zeug ansehen.«
Hannah, die spürt, dass sich so viele neue Augen auf sie richten, gerät in den Sog einer, wie sie es bezeichnet, »alles verzehrenden Anstrengung, oft genug aufzutauchen«. Sie sagt: »Auf Facebook ist alles außer Kontrolle geraten. … Man muss nicht dauernd drin sein, aber man darf auch nicht so wenig machen, dass das eigene Profil total langweilig ist. Wenn man also erstmal drin ist, hält es einen genug auf Trab, dass es einem nicht peinlich wird.« In
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