Verloren unter 100 Freunden
schließlich nicht jeden Tag. … Es passiert wirklich nicht jeden Tag.«
In einer Diskussion an der Silver Academy über das Internetleben rudern die Schüler auf ähnliche Weise zurück. Als ich eine Gruppe von Zehntklässlern frage: »Macht sich irgendjemand von euch Sorgen um seine Privatsphäre im Internet?«, rufen sie alle durcheinander: »Ja, ja, ja.« Carla und Penny beeilen sich, ihre Geschichten zu erzählen. Sie sind so aufgeregt, dass sie beide gleichzeitig anfangen zu reden. Dann beruhigen sie sich, und Carla übernimmt: »Ich bin mit meiner Mutter rausgegangen, einkaufen, und hab mein Handy zu Hause liegengelassen, und dann hat Penny hier mir geschrieben. Und ich hatte mein Telefon nicht dabei, aber mein Bruder war in der Nähe, als es summte. Also wollte er ihr antworten und so tun, als wäre ich es. Und dann hat sie irgendwas gesagt, und mein Bruder war sehr unhöflich. Und ich musste sie dann nachher anrufen und ihr sagen, dass es mein Bruder war und nicht ich.« Zuerst scheinen die beiden Mädchen jedem klarmachen zu wollen, was für eine empörende Geschichte das gewesen sei. Aber als die anderen ohne erkennbare Emotionen zuhören – jeder von ihnen hat schon mal so eine Geschichte gehört –, machen die beiden eine Kehrtwendung. Penny sagt, Carlas Bruder sei in seiner Verstellung nicht sehr geschickt gewesen, also hätte sie es vielleicht ohnehin bald gemerkt. Carla, jetzt in ihrem Zorn ganz allein, gibt klein bei: »Ja, wahrscheinlich.«
Die Medien neigen dazu, die jungen Erwachsenen von heute als Generation darzustellen, die sich nicht mehr um die Privatsphäre schert. Ich habe etwas anderes, ebenso Beunruhigendes festgestellt: Highschool-Schüler und College-Studenten verstehen die Regeln nicht richtig. Werden sie beobachtet? Wer beobachtet sie?
Muss man erst irgendetwas tun, um überwacht zu werden, oder ist es Routine? Ist Überwachung legal? Sie wissen nicht richtig Bescheid über die Bestimmungen bei Facebook oder G-mail, dem Mailservice von Google. Sie wissen nicht, auf welchen Schutz sie »Anspruch« haben und wo Widerspruch vernünftig oder überhaupt möglich ist. Wenn sich jemand Zugriff auf mein Handy verschafft und in meine Rolle schlüpft, sollte man das dann als Vergehen oder als dummen Streich werten? Nach den Erfahrungen der Teenager haben die Eltern – die Generation, die ihnen diese Technik gegeben hat – keine Antworten auf solche Fragen parat.
So ist Julia trotz ihrer Besorgnis, Schulbehörde und Polizei könnten die Online-Profile von Schülern überprüfen, schnell damit bei der Hand, dass sie nicht genau wisse, ob es wirklich so sei. Doch dann fügt sie noch hinzu, sie könne ja sowieso nichts dagegen tun, ganz egal, wie sich die Sache verhalte. Eine Siebzehnjährige, die gerade unter Aufsicht ihrer Vertrauenslehrerin ihren Facebook-Account »schrubbt«, um vor dem College-Zulassungsverfahren kompromittierende Fotos zu entfernen, ist überzeugt, dass jeder mit genügend Zeit und Geld eine Möglichkeit finden kann, ohne ihre Erlaubnis auf ihre Facebook-Seite zu gehen. »Es wird immer wieder darüber geredet, wie Colleges und Arbeitgeber es anstellen, sich die Seiten anzusehen. Ich nehme an, sie haben einfach Leute, die sich anmelden und so tun, als wären sie Freunde. Ich weiß nicht genau, wie es funktioniert.«
Doch die Ungewissheit hat auch ihre gute Seite. Was man nicht weiß, macht einen auch nicht heiß. Julia sagt: »Facebook und MySpace sind mein Leben.« Wenn sie etwas Unangenehmes erführe, sagen wir mal, darüber, was Facebook mit ihren Nachrichten anstellen könnte, müsste sie sich dafür rechtfertigen, dass sie dabeibleibt. Aber sie gesteht, dass sie nichts unternehmen würde, selbst wenn ihre schlimmsten Überwachungsbefürchtungen wahr würden.
Sie kann sich ein Leben ohne Facebook einfach nicht vorstellen.
Am Ende bietet Julia ein Bild der Unsicherheit und Passivität. Sie will gar keine Einzelheiten wissen. Sie möchte lieber einfach aufpassen, was sie tut, als zu viel darüber zu erfahren, wer sie gerade bespitzelt. »Ich verdränge das«, sagt sie. Sie verrät mir, dass sie sich persönlich sicher fühlt, weil sie »ziemlich langweilig« sei. Das heißt, es spielt keine Rolle, ob man sie beobachtet, weil sowieso nicht sehr viel zu sehen ist. Ein sechzehn Jahre altes Mädchen tut den Facebook-Umgang mit der Privatsphäre ebenfalls mit einem Achselzucken ab: »Wer interessiert sich schon für mich und mein kleines Leben?« Ein
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