Verloren unter 100 Freunden
damit sie gleich nachsehen kann. Es kommen den ganzen Tag Nachrichten, mindestens alle fünf Minuten vibriert ihr Handy. Es mache sie ganz »hibbelig«, wenn sie wisse, dass sie eine Nachricht bekommen habe. Sie mache sich Sorgen. Sie müsse die Nachricht unbedingt lesen. Und wenn sie dann nachsehe, erzählt sie mir, seien es oft Leute, die einfach nur Hallo sagen. Sie sagt: »Dann komme ich mir ganz blöd vor, weil ich solche Angst hatte.«
Mit Julias Erlaubnis hat eine ihrer Lehrerinnen unser Gespräch am Telefon mitgehört. Sie fragt behutsam: »Warum schaltest du das Handy nicht ab?« Julias Antwort kommt prompt: »Es könnte ja meine Mutter sein. Es könnte sich um einen Notfall handeln.« Die Lehrerin hakt vorsichtig nach: »Aber könnte deine Mutter dann nicht in der Schule anrufen?« Julia zögert nicht: »Ja, aber wenn es nun eine meiner Freundinnen war, die den Notfall direkt in der Schule hat?«
Julia beschreibt die möglichen Notfälle, die sie zwingen, auf jedes Signal ihres Telefons zu reagieren. Sie nennt eine hypothetische Situation mit einer »Freundin« (später wird sie zugeben, dass sie sich selbst gemeint hat): »Sagen wir mal, sie hat Probleme. Sie weiß, dass sie nichts gemacht hat, aber sie muss mit jemandem reden, sie muss es mir erzählen. Oder, ich weiß, das klingt jetzt voll blöd, aber wenn sie Ärger mit ihrem Freund hatte, würde sie es mir schreiben oder mich anrufen. Solche Sachen eben.« Ein bestimmtes Gefühl nicht sofort mit jemandem teilen zu können wird für so schwierig gehalten, dass es einen »Notfall« darstellt.
Oder es könnte Joe, dem Vater ihrer besten Freundin Heather, etwas
passieren. Joe hatte schon mehrere Herzinfarkte. »Sie haben ihm gesagt, wenn er noch einen bekommt, wird er wahrscheinlich daran sterben. Ich warte also immer, na ja, in der Tasche, auf einen Anruf. Entweder würde Heather mich anrufen oder ihre Mutter. Wo ich doch wirklich ein enges Verhältnis zu ihnen habe. Ihr Vater ist mein Vater. Und ich habe ihn gern. … Sowas wäre also ein Notfall.«
Julia zeigt mir die Liste ihrer Notfallkontakte in ihrem Handy, die Heather, Heathers Eltern und all ihre Geschwister beinhaltet. Sie sagt, früher habe sie noch Heathers Onkel und Tante dabeigehabt, »aber seit ich ein neues Handy habe, sind sie weg«. Sie macht sich eine Notiz, dass sie sich die Nummern besorgen muss. Zusammen mit ihrer Mutter sind diese Leute ihr Sicherheitsnetz. Ihr Handy verkörpert ihre Anwesenheit.
Julia, deren Leben von Übergängen und Trennungen geprägt ist, hat immer Angst vor Verlusten. Sie ist darauf eingestellt zu trauern. Jederzeit können Menschen sie alleinlassen oder ihr weggenommen werden. In Bezug auf ihr Handy pflegt Julia eine Art magisches Denken: Menschen, die sie liebt, werden nicht verschwinden, wenn sie mit ihnen in Kontakt bleibt. 3
Julias Handy, ein Symbol der Verbundenheit in einer wackeligen Welt, trägt ein Stück weit dazu bei, dass sie sich sicher fühlt. Sie sagt: »Wenn es jemals in der Schule einen Notfall geben sollte, könnte ich immer die Feuerwehr anrufen, oder wenn etwas passieren würde, wenn es brennen sollte oder irgend so ein komischer Kerl in die Schule käme, könnte ich meine Mutter anrufen und ihr sagen, dass es mir gut geht, oder auch nicht. Dafür ist es also auch praktisch.« Als Julia über ihre Trennungsängste redet, fängt sie an, auch über die Terroranschläge von 2001 auf das World Trade Center zu sprechen. Ich höre oft Geschichten über den 11. September, wenn ich Teenager über ihre Handys befrage. Durch das Prisma der Konnektivität betrachtet war der 11. September ein Tag, an dem sie
sich mit niemandem in Verbindung setzen konnten. Viele Lehrkräfte und Schulleiter jener Generation, die damit aufgewachsen sind, sich im Falle eines Atomangriffs unter der Schulbank zu verstecken, reagierten auf die Meldung vom Einsturz der Twin Towers damit, dass sie die Kinder in ihrer Obhut isolierten. Man holte die Schüler aus den Klassenräumen und brachte sie in den Keller – das typische Reaktionsschema aus der Zeit des Kalten Krieges. Am 11. September verbrachte Julia viele Stunden in dieser improvisierten Quarantäne. Sie und ihre Klassenkameraden hatten Angst und keine Möglichkeit, ihre Eltern anzurufen. »Ich war in der vierten Klasse«, erzählt sie. »Damals hatte ich noch kein Handy. Aber ich wollte mit meiner Mutter reden.«
Für Julia war dieser Tag umso beängstigender, als eines der Mädchen aus ihrer Klasse eine
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