Verloren unter 100 Freunden
sind. Manche haben Eltern, die ihre Familie ernähren, indem sie in einem anderen Bundesstaat oder im Ausland arbeiten. Manche haben Eltern, die so viel reisen müssen, dass ihre Kinder sie kaum zu Gesicht bekommen. Manche haben Eltern beim Militär, die im Ausland stationiert sind. Diese Teenager leben in einer Kultur, die vom Terrorismus bestimmt wird. Sie alle haben den 11. September erlebt. Sie sind damit aufgewachsen, in der Schule
und auf Flughäfen Metalldetektoren zu passieren. Sie neigen dazu, lieber nicht davon auszugehen, dass sie sicher landen werden. Das Handy wird zu einer Art Amulett, einem Talisman für Sicherheit.
Julia sagt ihrer Mutter die ganze Zeit, wo sie ist. Sie meldet sich nach der Schule, wenn sie in den Zug steigt, wenn sie nach Hause kommt oder bei einem Freund ankommt. Wenn sie das Haus verlässt, ruft sie an, und ebenso, wenn sie wieder dorthin zurückkehrt. Sie sagt: »Es ist wirklich schwer, sich vorzustellen, man hätte kein Handy. Ich kann mir das nicht vorstellen. … Mir kommt es so vor, als wäre es angewachsen. Ich und meine Freunde sagen: ›Ohne Handy fühle ich mich nackt.‹« Das nackte Ich wähnt sich in Gefahr. Es ist zerbrechlich und abhängig vom Verbundensein. Verbindung kann Ängste abmildern, aber, wie gesagt, sie schafft auch ihre eigenen Probleme.
Was soll das alles?
Lisa, siebzehn, Elftklässlerin an der Cranston-Highschool, ist desorientiert: »Ich komme von der Schule nach Hause und gehe ins Internet, und ich fühle mich wohl und unterhalte mich zwei Stunden lang online. Aber nachher habe ich trotzdem keine Freunde. Ich werde die Leute, mit denen ich geredet habe, nie kennen lernen. Es sind nur ›Chat-Leute‹. Na ja, möglicherweise sind es Zwölfjährige.« Ihre Beschäftigung mit den »Chat-Leuten« lässt bei ihr die Frage aufkommen, worauf die Zeit, die sie im Internet verbringt, eigentlich hinausläuft. Diese Frage beschäftigt auch Hannah, sechzehn, eine andere Cranston-Schülerin. Sie weiß genau, dass ihr die Online-Kontakte über ihre Schüchternheit Jungen gegenüber hinweghelfen. Viele ihrer Freundinnen haben schon einen Freund. Sie hat noch gar nicht richtig angefangen, sich zu verabreden. Einen
Freund zu haben bedeutet an der Cranston-Schule sexuellen Druck. Hannah weiß, dass sie noch nicht so weit ist, fühlt sich aber trotzdem im Abseits.
Vor fünf Jahren, als sie elf war, hatte Hannah einen Online-Freund, der sich Ian nannte. Sie beteiligte sich an einem Internet-Relay-Chat über Rockbands der Sechzigerjahre, eine besondere Leidenschaft von ihr. Ian, der damals sagte, er sei vierzehn, war auch dort. Nachdem sie sich ein paar Jahre lang in der Gruppe kennen gelernt hatten, knobelten sie und Ian aus, wie sie sich einen privaten Chatroom einrichten könnten. Sie sagt: »Das war wie Zauberei. Auf einmal waren wir in diesem Raum, nur wir beide.« Im Laufe der Zeit gewöhnten sich die beiden an, sich jeden Tag miteinander zu unterhalten und Scrabble zu spielen, häufig stundenlang. Ian sagte, er lebe in Liverpool und sei im Begriff fortzugehen, an die Universität. Hannah träumt davon, ihn zu treffen, sobald sie in anderthalb Jahren ans College geht und »wenn es mir nicht mehr so komisch vorkommt, Freunde aus aller Welt zu haben, auch solche, die älter sind als ich«. Obwohl sie bisher nur über schriftliche Nachrichten miteinander kommuniziert haben, sagt Hannah: »Ian ist der Mensch, der mich am besten kennt.« Sie will gar keinen Audio-oder Videokanal für ihre Treffen. So wie es jetzt ist, kann Hannah sich Ian vorstellen, wie sie ihn gern hätte. Und er kann sich Hannah vorstellen, wie er sie haben möchte. Die Vorstellung, dass wir genau die Person sein könnten, nach der der andere sich sehnt, ist eine machtvolle Fantasie, die unter anderem zu versprechen scheint, dass der eine nie einen Grund haben wird, den anderen zu verlassen. Sich als Objekt der Sehnsucht des anderen sicher zu fühlen (weil dieser sich einen als perfekte Verkörperung seiner Wünsche vorstellen kann) ist einer der Vorzüge von Internet-Beziehungen.
Online übt Hannah die Art zu flirten, die ihr im wirklichen Leben noch schwerfällt. Die Sicherheit ihrer Freundschaft mit Ian erlaubt
es ihr auszuprobieren, wie es wäre, einen richtigen Freund zu haben und sich der Verliebtheit hinzugeben. Aber sie findet diese Freundschaft auch »ein bisschen beängstigend«, weil, wie sie sagt, »der Mensch, den ich auf der Welt am liebsten habe, ja an jedem beliebigen Tag einfach
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