Verloren unter 100 Freunden
Tante hatte, die im World Trade Center arbeitete. Und einer der Jungen hatte einen Angehörigen, der vorgehabt hatte, an diesem Tag zu fliegen, der Junge wusste aber nicht, wohin. Erst am späten Nachmittag, als die Kommunikation wiederhergestellt war, erfuhren Julia und ihre Freunde, dass alle, um die sie sich Sorgen gemacht hatten, in Sicherheit waren.
»Es war unheimlich, weil meine Lehrer nicht wussten, was los war, und sie brachten uns alle in einen Raum und wussten gar nicht, was sie uns sagen sollten. Sie erzählten uns bloß, dass da ein paar böse Kerle wären, die Bomben werfen und mit Flugzeugen in Gebäude krachen würden. Wir fragten alles Mögliche, aber sie wussten nicht, was sie antworten sollten. Wir fragten sie, ob sie die Verbrecher geschnappt hätten. Und unser Lehrer sagte: »Ja, die sitzen im Gefängnis.« Aber es konnte ja gar keiner im Gefängnis sitzen, weil sie in dem explodierten Flugzeug gesessen hatten. Unsere Lehrer wussten also auch gar nicht, was passiert war.«
Das Trauma des 11. September gehört zur Geschichte der Konnektivitätskultur. Nach der Zerstörung des World Trade Centers akzeptierten die Amerikaner ein nie dagewesenes Maß an Überwachung sowohl ihrer Person als auch ihrer Kommunikation. Für Julias Generation stellte der 11. September ein Erlebnis des völligen Abgeschnittenseins von allem Trost dar. Im Schatten dieser Ereignisse wurden Handys zum Symbol physischer und emotionaler Sicherheit. Nach dem Angriff auf das World Trade Center entdeckten Eltern, die nie eingesehen hatten, warum sie ihren Kindern Handys geben sollten, plötzlich einen Grund dafür: den ununterbrochenen Kontakt. Julia hat aus ihrem Erleben des 11. September die Überzeugung mitgenommen, dass es »immer gut« sei, ein Handy bei sich zu haben.
In allen Schulen versuchen Lehrer ihren Schülern diese Überzeugung auszureden. Dabei sitzen sie ziemlich in der Klemme, denn die Schüler empfangen widersprüchliche Botschaften. Wenn Eltern ihren Kindern Handys geben, ist damit die Botschaft verbunden: »Ich hab dich lieb, und das hier macht dich sicher. Ich gebe dir das, weil ich mir Sorgen um dich mache.« Aber dann wollen die Schulen ihnen die Handys wieder wegnehmen. 4 Manche Schulen verlangen, dass die Handys stummgeschaltet und außer Sichtweite aufbewahrt werden. Andere verbannen sie in Schließfächer. An Julias Schule versuchen die Lehrer, ihre Schüler davon zu überzeugen, dass sie ihre Handys nicht die ganze Zeit griffbereit haben müssen. Julia zitiert ihren Lehrer spöttisch: »Sie sagen: ›Ach, es gibt doch in jedem Klassenzimmer ein Telefon.‹« Aber Julia stellt klar, dass sie davon nichts hält: »Ich fühle mich sicherer mit meinem eigenen Telefon. Wir können ja schließlich nicht alle auf einmal dasselbe Telefon benutzen.« Das ist ein weiterer nicht verhandelbarer Punkt: Um sicher zu sein, muss man ständig in Kontakt bleiben. »Wenn ich mit jemandem in Streit geraten sollte, würde ich meine
Freundin anrufen. Und wenn ich mit meinem Lehrer aneinandergeraten würde. Ich würde es ihr sagen, wenn es einen Kampf gäbe und ich Angst hätte. Wenn ich mich bedroht fühlte, würde ich es meinen Freunden sagen. Oder wenn jemand mit einem Messer hereinkäme, könnte ich ihnen eine Nachricht schicken.« In all diesen Fantasie-Situationen ist ein Handy beruhigend. Die Branscomb-Highschool hat Metalldetektoren am Eingang. Uniformierte Sicherheitsleute patrouillieren in den Fluren. Es hat Unruhen gegeben; die Schüler wurden in Prügeleien verwickelt. Während wir uns unterhalten, wandern Julias Gedanken zur Columbine-Highschool und zum Virginia-Polytechnikum: »Ich lese gerade ein Buch über eine Schule. … Es handelt von zwei Kindern, die ein Gewehr zu einer Tanzveranstaltung mitbrachten, alle als Geiseln nahmen und sich dann selbst umbrachten. Und das ist sehr ähnlich wie an der Columbine. … Wir hatten neulich eine Versammlung über die Columbine-Highschool. … Bei so einem Vorfall bräuchte ich mein Handy.«
Wir lesen viel über »Helikopter-Eltern«. 5 Sie stammen aus einer Generation, die nicht die Fehler ihrer Eltern wiederholen will (zu früh zu viel Unabhängigkeit erlauben), und schweben so gleichsam allgegenwärtig über dem Leben ihrer Kinder. Aber auch die Kinder verfechten die Helikopter-Erziehung. Sie vermeiden es um jeden Preis, den Kontakt zu unterbrechen. Einige, wie Julia, haben geschiedene Eltern. Einige haben Familien, die schon zwei oder drei Mal zerbrochen
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