Verloren unter 100 Freunden
fördere, die Robert Jay Lifton als »proteisch« bezeichnete. 12 Ich halte das immer noch für eine gute Metapher. Aber das proteische Ich wird durch die digitale Beharrlichkeit auf die Probe gestellt. Die Empfindung, wandelbar zu sein, stützt sich auf eine Illusion mit einer ungewissen Zukunft. Die Erfahrung, am eigenen Computer zu sitzen oder etwas ins Handy zu tippen, kommt uns so privat vor, dass wir leicht die tatsächlichen Gegebenheiten vergessen: Mit jeder Verbindung hinterlassen wir eine elektronische Spur.
Ebenso habe ich früher angeführt, das Internet stelle Jugendlichen Freiräume im Sinne Erik Eriksons zur Verfügung, wo sie ohne nennenswerte Konsequenzen mit ihrer Identität experimentieren können. Die digitale Beständigkeit unterminiert auch diese Möglichkeit. Ich rede mit Teenagern, die sechs- bis achttausend Nachrichten pro Monat versenden und empfangen, täglich stundenlang in Facebook sind und dabei Instant Messages und Google-Suchlisten hinterlassen – alles Vorgänge, die eine Datenspur erzeugen. Die
Vorstellung eines Moratoriums à la Erikson lässt sich nicht so ohne weiteres mit einem Leben vereinbaren, das seinen eigenen elektronischen Schatten generiert.
Peter Pan, der seinen Schatten nicht sehen konnte, war ein Junge, der nie erwachsen wurde. Im Internet sind die meisten von uns wie er. Mit der Zeit (und ich sage das mit großer Besorgnis) fühlt sich ein Leben mit einem digitalen Schatten so normal an, dass der Schatten zu verschwinden scheint – das heißt, so lange, bis wir in eine heikle Situation geraten: ein Gerichtsverfahren, ein unangenehmer Vorfall, eine Bewerbung. Dann stutzen wir, drehen uns um und sehen, dass wir selbst die digitale Überwachung erst ermöglicht haben. Aber die meiste Zeit über benehmen wir uns, als sei der digitale Schatten gar nicht vorhanden statt einfach nur unsichtbar. Tatsächlich versuchen die meisten Jugendlichen, die wie ich über die Beständigkeit von Internetdaten beunruhigt sind, das Problem zu verdrängen. Das Bedürfnis nach einem Freiraum ist so stark, dass sie, wenn es sein muss, sogar bereit sind, ihn zu erfinden. Das ist eine ebenso verständliche wie fragwürdige Lösung. Die Vorstellung, eine Spur zu hinterlassen, weil man jemanden anruft, eine Nachricht verschickt oder in Facebook etwas postet, ist auf einer bestimmten Ebene unerträglich. Und deshalb tun die Jugendlichen einfach so, als würde dies nicht passieren.
Auch Erwachsene leben in Fantasiewelten. Manche tun so, als wären E-Mails etwas Privates, obwohl sie wissen, dass das nicht stimmt. Andere erklären, sie würden nie wichtige Angelegenheiten oder private Unterhaltungen auf elektronischem Wege abwickeln. Sie behaupten beharrlich, dass sie für alles Wichtige einen sicheren Festnetzanschluss nutzten. Aber dann geben sie im Laufe des Gesprächs in der Regel doch zu, dass es Zeiten gab, in denen sie ihre eigenen Prinzipien nicht beherzigt haben. Sehr häufig räumen sie dabei verlegen eine Indiskretion beim E-Mailen ein.
Manche sagen, für sie sei das kein Thema; sie argumentieren, dass die Privatsphäre historisch eine neue Vorstellung sei. Das stimmt. Trotzdem hat sie unserer modernen Auffassung von Diskretion und Demokratie sehr genützt. Ohne die Privatsphäre verschwimmen die Ränder der Diskretion. Und wenn alle Informationen gesammelt werden, kann natürlich jeder zum Informanten werden.
Privatleben und Politik
Die Aussage, die Politik habe dem Internet viel zu verdanken, ist inzwischen zu einem Gemeinplatz geworden. Die digitalen Möglichkeiten brachten neue Informationsquellen hervor, wie etwa die schnelle politische Berichterstattung aus aller Welt, die uns in Form von Fotos und Videos aus Handykameras erreicht. Über das Internet wird organisiert und es werden Spenden eingeworben; seit der Kandidatur von Howard Dean in den Vorwahlen zur Präsidentschaftswahl 2004 werden Internetverbindungen als erster Schritt genutzt, um Menschen physisch zusammenzubringen. Die Kampagne von Barack Obama verwandelte die Idee der Dean-Ära vom »Aufruf« in ein Werkzeug, um Anhänger aus dem virtuellen Raum gegenseitig in ihr Zuhause oder auf die Straße zu bringen. Keine dieser sehr positiven Entwicklungen soll abgewertet werden, wenn wir uns mit der verstörenden Realität des Internets befassen, soweit es um die Frage der Privatsphäre geht. Neben Passivität und Resignation stellt sich eine Scheu vor politischer Meinungsäußerung ein.
Wenn sich junge Leute über
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