Verloren unter 100 Freunden
das Internet unterhalten, machen sie einen irritierenden Unterschied zwischen peinlichem Benehmen, das verzeihlich ist, und politischem Verhalten, das sie in Schwierigkeiten bringen könnte. Bei Highschool- und College-Usern
fallen Bespitzelung und alles andere, was sie untereinander veranstalten, in die erste Kategorie. Solche Mätzchen werden als Peinlichkeit verbucht. Die jungen Leute glauben, dass man sich für peinliche Ausrutscher entschuldigen und dann wieder zur Tagesordnung übergehen kann. Schließlich geht es in der Prominentenkultur immer nur um Grenzüberschreitungen und anschließende Rehabilitation. (Das Vergnügen von Heranwachsenden, ihresgleichen zu schikanieren, gehört in dieses Muster – etwas, wovon sie glauben, dass man es ihnen verzeiht.) Aber politische Äußerungen, wie das Unterschreiben einer Petition oder die Teilnahme an einer Demonstration, kann man nicht »zurücknehmen«. Ein Achtzehnjähriger formuliert es so: »Es [das Internet] bringt einen definitiv zum Nachdenken, ob man zu einer Protestveranstaltung oder sowas geht. Da sind so viele Kameras. Man weiß nie, wo die Bilder auftauchen könnten.«
Das Privatleben hat eine politische Seite. Für viele ist die Vorstellung »Wir werden sowieso alle die ganze Zeit über beobachtet, wer braucht da noch eine Privatsphäre?« zu einem Standardsatz geworden. Aber diese Haltung hat ihren Preis. Daran wurde ich bei einer Webby-Awards-Feier, einer Veranstaltung zur Auszeichnung der besten und einflussreichsten Internetseiten, deutlich erinnert. In dem betreffenden Jahr fanden die Festlichkeiten gerade zu dem Zeitpunkt statt, als ein Abhörskandal seitens der Regierung durch die Presse ging. Als sich die Frage nach dem widerrechtlichen Abhören von Bürgern stellte, drohte die übliche Reaktion der versammelten »Weberati« die Sache vom Tisch zu wischen. Es wurde viel darüber geredet, dass »jede Information etwas Gutes« sei, »Information kostenlos sein sollte« und »wer nichts zu verbergen habe, auch nichts zu befürchten brauche«. Bei einer Party vor der Preisverleihung unterhielt sich ein Internet-Star angeregt mit mir über die Abhördebatte. Zu meinem Erstaunen zitierte er Michel Foucault
und seine Gedanken über das Panopticon, um mir zu erklären, warum er sich keine Gedanken über die Privatsphäre im Internet mache.
Für Foucault ist es die Aufgabe des modernen Staates, die Notwendigkeit der Überwachung zu reduzieren, indem er für Bürger sorgt, die selbst auf ihre Unbescholtenheit achten. Ein disziplinierter Bürger hält sich an die Gesetze. Foucault schrieb über Jeremy Benthams Entwurf für ein Panopticon, weil dieser erfasst, wie eine solche Bürgerschaft erzeugt wird. 13 Im Panopticon, einem ringförmigen Gebäude mit einem Bewacher im Zentrum, entwickelt man das Gefühl, ständig beobachtet zu werden, unabhängig davon, ob der Bewacher tatsächlich vorhanden ist oder nicht. Wenn es sich um ein Gefängnis handelt, wissen die Insassen, dass sie immer jemand beobachten kann. So fördert diese architektonische Anordnung im Endeffekt die Selbstdisziplin. 14
Das Panopticon dient als Metapher dafür, wie im modernen Staat jeder Bürger zu seinem eigenen Polizisten wird. Gewalt wird überflüssig, weil sich der Staat selbst seine gehorsame Bürgerschaft aufbaut. Wenn sie jederzeit mit Überwachung rechnen müssen, richten alle ihr Augenmerk auf sich selbst. Analog dazu, sagte mein Webby-Gesprächspartner, kann einen auch im Internet theoretisch immer jemand beobachten, also spielt es keine Rolle, ob es hin und wieder tatsächlich einer tut. Solange man nichts Schlimmes anstellt, ist man sicher. Dieser Technikguru hatte Foucaults kritische Einstellung zur Disziplinargesellschaft in eine Rechtfertigung für die US-Regierung umfunktioniert, ihre Bürger mit Hilfe des Internets zu bespitzeln. Um uns herum auf der Cocktail-Party wurde überall beifällig genickt. Wir haben gesehen, dass Varianten dieser Denkweise, die unter webaffinen Menschen sehr verbreitet ist, auch unter Highschool- und College-Schülern immer beliebter werden.
Wenn man auf MySpace oder Facebook seine Privatangelegenheiten,
vom Musikgeschmack bis hin zu seinen sexuellen Problemen, ausplaudert, ist es unwahrscheinlicher, dass man von einer anonymen staatlichen Behörde belästigt wird, die weiß, wen man anruft oder auf welchen Internetseiten man sich herumtreibt. Manche Nutzer solcher Seiten freuen sich sogar über ein gewisses öffentliches
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