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Verloren unter 100 Freunden

Verloren unter 100 Freunden

Titel: Verloren unter 100 Freunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherry Turkle
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nur zurückzumelden«. Ich frage ihn, wann, aus seiner Sicht, der Druck einer sofortigen Antwort geringer sei. Cliff nennt ganze zwei Szenarien: »Während einer Klausur. Oder wenn man keinen Empfang hat.« Abwesenheit macht einen verdächtig – man tut etwas anderes, denkt an etwas anderes, ist mit jemand anderem zusammen.
    Wir sehen junge Menschen über ihre Schulflure schlurfen und Nachrichten an Online-Bekanntschaften eintippen, denen sie nie begegnen werden. Wir sehen, dass sie sich lebendiger fühlen, wenn sie miteinander in Verbindung stehen, dann wieder einsam und orientierungslos, wenn sie ihre Bildschirme abschalten. Einige verbringen mehr als die Hälfte ihrer Zeit an virtuellen Orten. Und gleichzeitig sprechen sie wehmütig von Briefen, von persönlichen Begegnungen und von der Privatsphäre, die Münztelefone bieten. Alle durch die virtuelle Nabelschnur miteinander verbunden, versuchen sie sich eine Zukunft vorzustellen, die anders ist als die, die sie kommen sehen, und berufen sich dabei auf eine Vergangenheit, die sie nicht miterlebt haben. In dieser Zukunft haben sie Zeit für sich selbst, für die Natur, füreinander und für die Familie.
    Eine Kurznachricht zu verschicken ist verführerisch. Es enthält ein Versprechen, das eine eigene Forderung generiert. 1 Das Versprechen
lautet: Die Nachricht erreicht den anderen binnen Sekunden, und ganz gleich, ob er »verfügbar« ist oder nicht, er wird sie sehen. Die Forderung: Wenn man eine Nachricht erhält, hat man sie zur Kenntnis zu nehmen (während des Unterrichts bedeutet dies, einen schnellen Blick auf ein stumm geschaltetes Telefon zu werfen) und schnellstmöglich zu antworten. Cliff sagt, in seinem Freundeskreis bedeute das »maximal zehn Minuten«.
    »Ich sage Ihnen, wie es an unserem College zugeht. Wenn man eine Nachricht erhält, fühlt man sich verpflichtet zu antworten. Der andere geht ja davon aus, dass man die Nachricht erhalten hat. Bei einer Instant Message kann man behaupten, man hätte nicht am Computer gesessen oder habe keine Internetverbindung gehabt. Bei einer SMS geht das nicht so leicht. Die wenigsten Leute schauen nur kurz auf ihr Handy und lesen die SMS dann nicht. Das tut doch eigentlich niemand … Man fühlt sich einfach unter Druck. Mir ist nicht immer danach, mit anderen zu kommunizieren. Wer sagt denn, dass wir immer dazu bereit sein müssen?«
    In der Tat, wer sagt das? Sich anzuhören, was junge Leute vermissen, könnte aufzeigen, was sie brauchen. Sie brauchen Aufmerksamkeit.
    Aufmerksamkeit
    Teenager wissen, dass sie, wenn sie mit Instant Message kommunizieren, mit vielen anderen Fenstern auf einem Computerbildschirm konkurrieren. Ihnen ist klar, wie wenig Aufmerksamkeit sie erhalten, weil sie wissen, wie wenig Aufmerksamkeit sie selbst ihren erhaltenen Instant Messages schenken. Eine Schülerin im zweiten
Oberstufenjahr an der Branscomb-Highschool sagt, diese Art des Nachrichtenaustauschs sei so, wie wenn man im Auto den Tempomat eingeschaltet habe. Die Aufmerksamkeit liege anderswo. Ein weiterer Branscomb-Schüler sagt: »Selbst wenn ich der Person, mit der ich Nachrichten austausche, meine volle Aufmerksamkeit schenke, bekomme ich nicht das gleiche Maß an Aufmerksamkeit zurück.« Wenn er jemanden anruft, schätzt er als Erstes ab, ob der andere »ganz für mich da ist«. Das ist einer der Vorteile des Telefonierens. Wenn man Kurznachrichten austauscht, weiß man nie genau, was die andere Person gerade tut. Sie könnte telefonieren, fernsehen, aufräumen oder andere Online-Gespräche führen.
    Junge Menschen sehnen sich nach ungeteilter Aufmerksamkeit. Sie sind mit Eltern aufgewachsen, die auf dem Weg zum Spielplatz in ihre Handys sprachen und Nachrichten durchscrollten. Die Eltern schrieben mit einer Hand eine SMS, während sie mit der anderen die Schaukel anstießen; sie blickten aufs Klettergerüst und erledigten dabei ihre Telefonate. Teenager schildern Kindheiten mit Eltern, die während der Autofahrt zur Schule oder beim gemeinsamen Disneyfilm ständig ihre Smartphones benutzten. Eine junge College-Studentin erzählt, sie und ihr Vater seien, während er ihr die Harry-Potter-Romane vorlas, andauernd von dessen Blackberry unterbrochen wurden. Blackberrys und Laptops wurden in den Familienurlaub mitgenommen. Wochenenden auf dem Land wurden abgebrochen, weil es im Hotel kein Internet gab. Lon, achtzehn, erzählt, dass sein Vater genau das getan habe. Er setzte die Familie ins Auto und fuhr nach Hause, zurück

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