Verloren unter 100 Freunden
im Internet landet, bleibt auch dort.« Sie findet das »einfach zu hart … Es liegt einfach in der menschlichen Natur, dass Dinge verschwinden.« Skeptisch steht sie denjenigen gegenüber, die behaupten, es gelänge ihnen, eine Wand zwischen ihrem Offline- und ihrem Online-Leben zu ziehen: »Alles, was im Internet ist, kann jeder kopieren und ändern oder speichern. … Wenn man persönlich ein Gespräch mit jemandem führt und es nicht gerade auf Tonband aufgenommen wird, kann man hinterher seine Meinung ändern, aber im Internet geht das nicht. Dort ist es fast so, als würde alles, was man sagt, auf Tonband aufgenommen. Man kann dann nicht sagen: ›Ich habe es mir anders überlegt.‹ Man kann schon, aber es ist ja trotzdem immer noch da.«
Das Internet als Spielwiese zu betrachten, auf der man herumexperimentieren und seine Persönlichkeit ausdrücken kann, hat etwas Wahres. Aber betrachtet man es aus Elaines Blickwinkel, so liegt ihre Freiheit nur darin, Dinge zu sagen, die sich das System »für immer merkt«. Der gesunde Menschenverstand überwiegt: »Frei« in Verbindung mit »für immer« erscheint nicht praktikabel. Elaine sagt: »Ich habe das Gefühl, das Internet hat mir meine Kindheit gestohlen. Ich sollte gar nicht über diese Dinge nachdenken.« Dawn hat versucht, ihre Facebook-Seite zu »schrubben«, als sie aufs College gehen wollte. »Ich wollte neu anfangen«, sagt sie. Aber sie konnte gar nicht so viel löschen. Ihre Freunde haben Bilder von ihr auf ihren Seiten und Nachrichten von ihr an der Pinnwand. Das
alles würde dort bleiben. Sie sagt: »Das ist, als könnte jeden Augenblick jemand auf ein schreckliches Geheimnis stoßen, von dem ich gar nicht mehr wusste, dass ich es irgendwo hinterlassen habe.«
Wie in Brads gnadenloser Selbstkritik (»Ich hätte wissen müssen … man hat keine Entschuldigung …«) ist auch hier ein neues System der Selbstüberwachung am Werk. Diese Kinder haben, als sie klein waren, gelernt, etwas im Internet zu schreiben, und später erst entdeckt, dass es für immer dableibt. Wir sehen eine erste Generation in dem Bewusstsein heranwachsen, dass jeder ihrer Fehltritte und all ihre Jugendsünden in einem Computerspeicher eingefroren sind. Manche verdrängen das, aber einige können oder wollen das nicht – und sollten es auch nicht tun, finde ich.
Die Menschheit hat eine ganze Generation gebraucht, um zu begreifen, dass die Begriffe »löschen« und »ausradieren« im Internet rein metaphorisch zu verstehen sind: Ordner, Fotos, Mails und Suchprotokolle verschwinden lediglich aus dem Blickfeld. 11 Das Internet vergisst nichts. Die Bedeutung dieser Feststellung ist schwer zu begreifen, denn unser erster Impuls lautet: »Das ist unglaublich.« Manche Teenager bestreiten schlichtweg, was passiert; andere finden es »unfair«, dass sie Äußerungen aus ihrer Kindheit und Jugend ein Leben lang mit sich herumschleppen werden. Corbin, ein älterer Hadley-Schüler, kommentiert die Vorstellung, dass im Internet nichts wieder vollständig verschwindet. Er sagt: »Alles, was ich jemals auf Facebook geschrieben habe, wird immer da sein. Also kann man dem, was man getan hat, nie entkommen.«
Mit der Beharrlichkeit von Daten geht auch die Beharrlichkeit von Personen einher. Wenn man sich als Zehnjähriger im Internet mit einem anderen anfreundet, bedarf es eines deutlichen Schrittes, um diese Freundschaft wieder zu beenden. Im Prinzip würde jeder gern mit den Gefährten seiner Kindheit in Kontakt bleiben, aber die sozialen Netzwerke rücken die Vorstellung von »Leuten aus der
Vergangenheit«… in die Nähe eines Anachronismus: Alle Freundschaften, frühere wie gegenwärtige, sind dort ja ständig präsent. Corbin sucht nach Worten, um sein Unbehagen auszudrücken. Er sagt: »Zum ersten Mal bleiben Freundschaften erhalten. Das macht es schwieriger, loszulassen und sich vorwärts zu bewegen.« Sanjay, sechzehn, der sich fragt, »ob ich auch noch etwas an die Pinnwand meiner Freunde schreiben werde, wenn ich erwachsen bin«, fasst seine Bedenken zusammen: »Zum ersten Mal können die Leute ihr ganzes Leben lang mit anderen in Verbindung bleiben. Aber es war ja eigentlich gut, dass man seine Highschool-Freunde irgendwann hinter sich lassen musste, um seine Persönlichkeit weiterzuentwickeln.«
Das ist die Angst vor dem Immer und Ewig. Vor zehn Jahren argumentierte ich, dass die Fluidität, Flexibilität und Multiplizität unseres Computerlebens die Art von Ich
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