Verloren unter 100 Freunden
Gesprächen mal aus der Haut fahre oder missverstanden werde, »kann ich sagen ›Tut mir leid‹ oder ›Ich
erklär’s nochmal‹ … oder ich reiße einen Witz und lache es einfach weg.« Im Internet speichert Facebook alles, selbst wenn es sonst niemand tut. »Ich hab schon eine Menge Geschichten über Leute gehört, die auf Facebook Nachrichten geschrieben oder etwas an die Pinnwand von irgendjemandem gepostet haben, und am nächsten Tag hat es ihnen leid getan, weil sie gemerkt haben, dass es blöd von ihnen war. Eine Spontanreaktion, sie haben den Kopf verloren oder so.« Aber nun stand es da und zeigte sie von ihrer schlechtesten Seite.
Brad räumt ein, dass man »natürlich auch, wenn man jemandem persönlich etwas Dummes sagt«, später daran erinnert werden kann, aber er sieht in einer Kommunikation Auge in Auge eine Menge »Spielraum« für »allgemeine menschliche Irrtümer«. Im Internet kann es immer sein, dass Leute »sichtbare Beweise … gespeicherte Schwarz-auf-Weiß-Belege deines Fehltritts sammeln«. Brad geht es nicht darum, etwas oder jemanden zu verurteilen, weder das, was die Technik möglich macht, noch die Leute, die ohne Erlaubnis Dinge speichern. Er bezeichnet sich als »Realisten«. Damit meint er: »Jeder, der in der digitalen Welt lebt, sollte wissen, dass es nicht gut ist, online die Nerven zu verlieren oder etwas zu sagen, was man nicht verbreitet haben möchte.« Und im Übrigen, sagt er, »gibt es keinen Grund, die Online-Kommunikation für spontane Gefühlsentladungen zu benutzen. … Man hat keine Entschuldigung dafür, im Internet auszurasten, denn man hätte ja einfach ein paar Minuten warten können, bis man sich wieder beruhigt hat.« Hier sehen wir eine Selbstüberwachung bis an den Punkt, an dem man versucht, sich ein vorkorrigiertes Ich zuzulegen.
Wenn Brad von »sichtbaren Beweisen … gespeicherten Schwarz-auf-Weiß-Belegen« redet, klingt er wie ein Gejagter. Ich frage ihn, wie es mit Leuten aussehe, die seine Briefe aufhöben. Er sagt, das störe ihn nicht. In einem Brief, erklärt er, würde er nachdenken, bevor
er schreibe, und manchmal schreibe er einen Brief auch ein paar Mal um. Aber Online-Unterhaltungen fühlten sich für ihn unverbindlich an, auch wenn er es »besser wisse«; man gewöhne sich an, seine Gedanken unmittelbar aufzuschreiben. Obwohl alles bewusst »komponiert« sei, erfasse ihn irgendwie »so ein Gefühl, in einer Freizone zu sein«. Die sechzehnjährige Audrey beschreibt eine ähnlich gespaltene Sichtweise. Ihr Gefühl sagt ihr, dass das Online-Leben ein experimenteller Raum ist. Aber sie weiß , dass elektronische Nachrichten für immer sind und Colleges und potentielle Arbeitgeber Methoden haben, auf ihre Facebook-Seite zu gelangen. Ihr Gefühl und ihr Wissen stimmen nicht überein.
Brad und Audrey erleben beide das Paradoxe der elektronischen Kommunikation. Man starrt auf den Computer-Monitor auf dem Schreibtisch oder das Smartphone-Display in seiner Hand. Sie sind passiv und sie gehören einem; das verspricht Sicherheit und Akzeptanz. Im Kokon der elektronischen Nachrichtenübermittlung stellen wir uns unsere Gesprächspartner so vor, wie wir sie gern hätten; wir schreiben an jenen Teil von ihnen, der uns ein Gefühl von Sicherheit vermittelt. Man glaubt etwas zu tun, was privat und vorübergehend ist. Aber diese Kommunikation ist öffentlich und unbegrenzt haltbar. Diese Diskrepanz zwischen der Vorstellung von der digitalen Kommunikation und deren Realität erklärt, warum die Leute weiter verräterische E-Mails und Nachrichten verschicken, Texte, die dokumentieren, dass sie Gesetzesverstöße begehen und ihre Ehepartner betrügen. Manche versuchen, sich dazu zu zwingen, ihr Verhalten eher dem anzupassen, was sie wissen, als dem, was sie empfinden. Aber wenn sie vergessen wollen, dass es im Internet keine Vertraulichkeit gibt, spielt das Medium bereitwillig mit.
Erinnern wir uns an die siebzehn Jahre alte Elaine, die fand, das Internet mache es schüchternen Menschen leichter, Freunde zu finden,
weil sie weniger Hemmungen haben, wenn sie sich hinter dem Bildschirm verstecken können. Elaines Empfindungen über diesen »Freiraum« sind widersprüchlich. Zum Beispiel weiß sie, dass alles, was sie auf eine Internetseite wie Facebook stellt, für immer dort bleibt und Facebook gehört. Aber Elaine ist nicht sicher, dass sie, wenn sie erst einmal online ist, noch daran denken wird. Sie hält es für unrealistisch zu sagen: »Was einmal
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