Verloren unter 100 Freunden
Wahrgenommenwerden; für sie ist es ein Gefühl der Anerkennung, nicht der Übertretung. Gesehen zu werden heißt, nicht unbedeutend oder allein zu sein. Bei all dem Gerede über eine Generation, die vom Internet befähigt ist, ruft jede Diskussion über den Schutz der Persönlichkeit im Internet Bekenntnisse der Resignation und Ohnmacht hervor. Wenn ich mich mit Teenagern über die Wahrscheinlichkeit unterhalte, dass ihre Persönlichkeitsrechte verletzt werden könnten, denke ich an meine ganz andere Erfahrung aus meiner Jugend in Brooklyn in den Fünfzigerjahren.
Als die McCarthy-Ära über meine Großeltern hereinbrach, bekamen sie Angst. Vor dem Hintergrund ihrer osteuropäischen Herkunft empfanden sie die McCarthy-Anhörungen nicht als Verteidigung des Patriotismus, sondern als Angriff auf die Menschenrechte. Joseph McCarthy bespitzelte die Amerikaner, und dass die Regierung ihre Bürger bespitzelt, kannten sie schon aus der Alten Welt. Dort rechnete man damit, dass die Regierung die Post las, was nie gut ausging. In Amerika lagen die Dinge anders. Als kleines Kind wohnte ich bei meinen Großeltern in einem großen Apartmenthaus. Jeden Morgen nahm mich meine Großmutter mit hinunter zu den Briefkästen. Dort blickte sie versonnen auf die glänzenden Messingtürchen, an denen, wie sie bemerkte, »die Leute ohne Angst und für jeden sichtbar ihre Namen anbrachten«. Jedes Mal, sagte sie, als wäre es ihr eben erst eingefallen: »In Amerika darf niemand deine Post lesen. Das wäre eine strafbare Handlung. Das ist das Schöne an diesem Land.« Die frühkindliche Lektion in Staatsbürgerkunde am Beispiel des Briefkastens hat meine Auffassung von
Privatsphäre und Bürgerrechten geprägt. Ich stelle mir vor, wie anders das heute für Kinder ist, die lernen, mit der Vorstellung zu leben, dass ihre E-Mails und Chatbeiträge öffentlich und ungeschützt sind. Und ich denke an den Internet-Guru auf der Webby-Award-Party, der ohne erkennbare Ironie Foucault zitierte, dabei die Vorstellung akzeptierte, dass das Internet den Traum vom Panopticon wahrgemacht habe und seinen politischen Standpunkt über das Netz folgendermaßen zusammenfasste: »Der beste Weg, damit umzugehen ist, einfach artig zu sein.«
Aber manchmal sollte eine Bürgerschaft nicht einfach nur »artig« sein. Man muss den Leuten Raum für Kritik lassen, echte Kritik. Man muss ihnen technisch Raum lassen (der unantastbare Briefkasten) und auch mental. Beides hängt miteinander zusammen. Wir machen unsere Technologien, und sie machen dafür etwas mit uns. Meine Großmutter hat mich in einem Hausflur in Brooklyn zu einer amerikanischen Staatsbürgerin gemacht, einer freiheitsliebenden Bürgerin, einer Verteidigerin der Persönlichkeitsrechte. Ich bin mir nicht sicher, an welchen Ort ich meine achtzehnjährige Tochter mitnehmen soll, die immer noch findet, dass Loopt (die Anwendung, die die GPS-Fähigkeit des iPhones benutzt, um ihr zu zeigen, wo ihre Freunde gerade sind) ihr unheimlich ist, dann aber bemerkt, sie könne es ja schlecht von ihrem iPhone entfernen, wenn all ihre Freunde es auch haben. »Sie würden denken, dass ich etwas zu verbergen habe.«
In einer Demokratie müssen wir uns vielleicht alle angewöhnen, davon auszugehen, dass jeder etwas zu verbergen hat – einen Bereich privater Handlungen und Überlegungen, der geschützt werden muss, egal wie technikbegeistert wir sind. Mir spukt immer noch der sechzehnjährige Junge im Kopf herum, der mir erzählt hat, dass er für private Anrufe nur ein Münztelefon benutzt, und sich beklagt, wie schwierig es sei, in Boston eines zu finden. Und das Mädchen,
das seine Reaktion auf den Verlust der Privatsphäre im Internet in der Frage zusammenfasst: »Wer interessiert sich schon für mich und mein kleines Leben?«
An den Briefkästen in Brooklyn lernte ich, eine Staatsbürgerin zu sein. Eine Unterhaltung über technische Errungenschaften, Privatsphäre und die Zivilgesellschaft anzufangen ist für mich keine Nostalgie und keineswegs Maschinenstürmerei. Vielmehr scheint es mir zur Demokratie zu gehören, dass sie ihre geheiligten Bereiche festlegt.
14. Kapitel
Die Nostalgie der Jugend
Cliff, im zweiten Jahr an der Silver Academy, fragt sich, ob es jemals möglich wäre, zurückzukehren zum Zustand vor der Kurznachrichtenflut. Cliff sagt, er sei so sehr in das Hin und Her seines digitalen Nachrichtenaustauschs verwickelt, dass er letztlich viel zu viel Zeit damit vergeude, sich bei anderen »einfach
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