Verloren unter 100 Freunden
sich Zeit genommen hat, dass es wirklich von Herzen kommt. E-Mails und SMS sind unpersönlich. Und der Umstand, dass man einen Brief anfassen kann, ist auch sehr wichtig … E-Mails werden gelöscht, Briefe aber hebt man auf. Sie sind etwas Reales, etwas Greifbares.« Sein Mitschüler Luis stimmt ihm zu. »Einen Brief zu verfassen ist etwas Besonderes. Man sieht die Handschrift, sie kann zeigen, wie es einem geht. Man kann den Brief mit allen möglichen Sachen verzieren.« Es stellt sich heraus, dass er noch nie einen persönlichen Brief erhalten hat. Er sagt: »Ich vermisse diese Zeit, selbst wenn ich damals noch gar nicht am Leben war.« Er fährt fort, etwas schüchtern,
weil er fürchtet, seine Vorliebe für Briefe könnte ihn seltsam erscheinen lassen. »Früher war es ganz normal, so zu empfinden, es war Teil unserer Kultur. Heute muss man sich fast dafür entschuldigen, weil man etwas mag, was man gar nicht selbst erlebt hat.«
Brad sagt, das digitale Leben bringe einen darum, zu lernen, den Gesichtsausdruck eines Menschen zu lesen, »die feinen Gefühlsnuancen zu erkennen«. Und es bringe einen darum, »passiv man selbst zu sein«. Es ist eine ungewöhnliche Ausdrucksweise. So wie ich es verstehe, begreift Brad es als Umschreibung für Authentizität. Es bezieht sich darauf, wer man ist, wenn man sich nicht verstellt, wenn man nichts darstellt. Es bezieht sich darauf, wie man sich in einem einfachen, ungeplanten Gespräch verhält. Sein Mitschüler Miguel mag SMS-Schreiben, weil es einem erlaube, »sich zu verstecken«, aber um sich jemandem nahe zu fühlen, bedürfe es eines spontaneren Mediums.
»Ein Telefongespräch ist so persönlich, weil man dabei nicht ewig dasitzt und überlegt, was man als Nächstes sagt. Es sprudelt einfach aus einem heraus, und zwar so, wie es gemeint ist. Wenn man eine Textnachricht erhält, kann man ein paar Minuten überlegen, was man antwortet, aber bei einem Telefonat wäre es merkwürdig, ein paar Minuten zu schweigen, bevor man etwas sagt … Deshalb mag ich Telefongespräche. Mir ist lieber, wenn der andere ehrlich zu mir ist … Beim Telefonieren ›entblößt‹ man sich zwar irgendwie, aber es ist einfach besser.«
An der Fillmore School sagt Grant, dass er sich »ziemlich einsam« gefühlt habe, als er »noch den ganzen Tag SMS schrieb«. Er hat damit aufgehört, außer mit seiner Freundin. Auf ihre langen Nachrichten antwortet er mit »k« für »okay« und wartet mit der weiteren Kommunikation, bis er mit ihr telefonieren kann oder sie persönlich
trifft. »Wenn man eine Kurznachricht geschickt bekommt, sieht man nicht, wie der andere es sagt. Er könnte dabei grinsen oder todernst dreinblicken, man kann sich einfach nicht sicher sein.«
Diese jungen Männer bitten um Zeit und Berührbarkeit, um Aufmerksamkeit und Unmittelbarkeit. Sie stellen sich ein Leben mit weniger bewusster Darbietung vor. Sie wünschen sich eine Welt zurück, in der die Menschen greifbare Dinge taten, eines nach dem anderen. Das hat eine eigene Ironie. Denn diese jungen Männer gehören zu einer Generation, die dafür bekannt ist und dafür gefeiert wird, dass sie immer mehrere Dinge gleichzeitig tut.
Erik Erikson schreibt, dass Jugendliche bei ihrer Identitätssuche einen Ort der Ruhe bräuchten, einen Ort, an dem sie sich sammeln können. 2 Der Psychiater Anthony Storr schreibt Ähnliches über das Ungestörtsein. Storr sagt, bei der Untersuchung kreativer Prozesse sei deutlich geworden, dass »die bei weitem größte Menge an neuen Ideen in einem Zustand der Träumerei« entstehe, einem »Schwebezustand zwischen Wachsein und Schlafen … Es handelt sich um einen Geisteszustand, in dem es Ideen und Bildern erlaubt ist, aufzusteigen und sich spontan weiterzuentwickeln … Der Erzeuger [dieser Ideen und Bilder] muss zur Passivität befähigt sein, damit diese Dinge in seinem Kopf geschehen können.« 3 Im digitalen Leben zählen Ruhe und Ungestörtheit eher zu den Ausnahmen.
Wenn wir online sind, prasselt das knallbunte Treiben des Internet-Basars auf uns ein. Roanne, sechzehn, benutzt ein gewöhnliches Papiernotizbuch, um ihr Tagebuch zu führen. Sie sagt, sie sei zu schwach, um bei der Sache zu bleiben, wenn sie sich den Versuchungen des Computers aussetze:
»Ich kann den Computer nicht fürs Tagebuchschreiben benutzen, denn ich könnte mir im Netz jederzeit eine Desperate-Housewives -Folge anschauen, und wenn auch nur ein paar Minuten lang, oder
Gossip Girl oder Glee . Falls man
Weitere Kostenlose Bücher