Verloren unter 100 Freunden
simuliere, dies erst recht zu Misshandlungen führen würde.
Es gibt auch Eltern, die finden, dass der Roboter auf Misshandlungen von Seiten der Kinder reagieren sollte, und zwar aus demselben Grund, aus dem sie ihre Kinder gewalttätige Videospiele spielen lassen: Sie betrachten derartige Erfahrungen als »kathartisch«. Sie sagen, dass Kinder (und auch Erwachsene) ihre Aggressionen (oder ihren Sadismus oder ihre Neugier) in Situationen zum Ausdruck bringen sollten, die realistisch anmuten, in denen aber nichts »Lebendiges« zu Schaden komme. Aber selbst diese Eltern zeigen sich manchmal dankbar dafür, dass das Roboterbaby im Zweifelsfall einfach »dichtmacht«. Sie möchten nicht mitansehen müssen, wie ihr Kind ein weinendes Baby misshandelt.
Egal, welcher Meinung man ist – soziale Roboter haben uns gelehrt, dass wir nicht davor zurückschrecken, realistischen Simulationen lebendiger Geschöpfe Schmerzen zuzufügen. Natürlich werden Menschen auf diese Weise auch für den Kriegseinsatz trainiert. Als Erstes lernen wir, virtuelle Wesen zu töten. Nachdem wir ausreichend desensibilisiert sind, schickt man uns los, um echte Menschen zu töten. Diese Dinge zu untersuchen wirft beklemmende Fragen auf. Freedom Baird ließ Menschen, sehr zu deren Unbehagen, wimmernde Furbys kopfüber in die Höhe halten. Möchten wir zur Misshandlung zunehmend lebensechter Roboterpuppen ermutigen?
Wenn ich Kinder in einer Nachmittagsspielgruppe für Achtjährige bei ihrem Umgang mit dem My Real Baby beobachte, sehe ich ein breites Spektrum an Antworten auf diese Frage. Alana schleudert das Roboterbaby in die Luft, fängt es an einem Bein auf und schüttelt es heftig, alles zum großen Vergnügen einer kleinen Gruppe von Freunden. Alana sagt, der Roboter habe »keine Gefühle«. Wenn man ihr zusieht, fragt man sich, warum es dann nötig ist, etwas zu »quälen«, das keine Gefühle besitzt. Mit den normalen Puppen im Raum geht Alana nicht so um. Scott regt sich auf und nimmt ihr das
Roboterbaby weg. Er sagt: »Es ist wie ein echtes Baby und wie eine Puppe … Ich glaube, sie will nicht, dass man ihr wehtut.«
Während Scott versucht, dem Roboter eine frische Windel anzulegen, stehen einige andere Kinder daneben und stecken der Maschine ihre Finger in Mund und Ohren. Ein Kind fragt: »Glaubt ihr, das tut ihm weh?« Scott warnt: »Es fängt gleich an zu weinen!« An diesem Punkt versucht ein Mädchen Scott das Roboterbaby zu entreißen, weil sie ihn als inadäquaten Beschützer betrachtet. »Lass es los!« Scott widersetzt sich. »Ich wechsle ihm gerade die Windel!« Es scheint an der Zeit, das Puppenspiel zu beenden. Während das Forscherteam erschöpft die Sachen zusammenpackt, schleicht Scott, ohne dass die anderen Kinder es mitbekommen, mit dem Roboterbaby hinter einen Tisch, verabschiedet sich von ihm und gibt ihm einen Kuss.
Im chaotischen Treiben von Scotts und Alanas Spielgruppe ist das My Real Baby lebendig genug, um es quälen und beschützen zu können. Die Erwachsenen, die zuschauen – eine Lehrergruppe und mein Forscherteam –, fühlen sich auf unbekanntem Terrain. Hätten die Kinder eine gewöhnliche Stoffpuppe malträtiert, hätten wir und wahrscheinlich auch Scott uns nicht aufgeregt. Aber mitanzusehen, wie das Roboterbaby misshandelt wird, fällt schwer. Das alles – schmerzerfüllt wimmernde Furbys, My Real Babys, die genau das nicht tun – schafft neue ethische Grundlagen. Die Computerspielsachen der Achtzigerjahre haben ethische Fragen nur angedeutet. Die Bezugsartefakte der Gegenwart werfen sie ganz unmittelbar auf.
Die neue Ethik sieht man in den Reaktionen meiner Studenten auf Nexi, einen humanoiden Roboter am MIT, in der Praxis. Nexi hat einen weiblichen Torso, ein emotional ausdrucksstarkes Gesicht und kann sprechen. Im Jahr 2009 vereinbarte eine meiner Studentinnen zu Recherchezwecken einen Termin mit den Konstrukteuren
des Roboters. Weil es ein Missverständnis beim Vereinbaren der Uhrzeit gab, war niemand im Büro, als die Studentin eintraf; Nexi stand in ihrer direkten Nähe. Die Studentin regte sich auf: Der abgeschaltete Roboter war mit verbundenen Augen hinter einem Vorhang abgestellt worden.
Bei unserer nächsten Begegnung im Seminarraum schilderte die Studentin, wie es für sie war, neben dem Roboter zu sitzen: »Es war ziemlich verstörend. Der Vorhang – und warum hatte man ihr die Augen verbunden? Es hat mich total aufgeregt, dass man ihr die Augen verbunden hatte.« Die Episode
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