Verloren unter 100 Freunden
kann noch viel mehr: Es blinzelt verwundert und lutscht am Daumen; mit Hilfe der unter der künstlichen Haut liegenden Gesichtsmuskeln kann es lächeln, lachen und weinen. Um mit dem Roboterbaby zurechtzukommen, ist es – wie bei allen sozialen Robotern – erforderlich, dass man seinen Gemütszustand zu erkennen lernt. Es wird müde und möchte schlafen; es ist überreizt und möchte in Ruhe gelassen werden. Es möchte gestreichelt und gefüttert werden und die Windeln gewechselt bekommen. Mit der Zeit entwickelt sich das Roboterbaby vom Säugling in ein zweijähriges Kleinkind. Geschluchze und Gebrabbel weicht zusammenhängenden Sätzen. Während es heranwächst, wird es immer unabhängiger und äußert zunehmend seine Wünsche und Bedürfnisse. Im Wesentlichen gilt auch hier das Tamagotchi-Muster: Das My Real Baby fordert Fürsorge, und seine Persönlichkeit wird durch die Behandlung geformt, die ihm zuteil wird.
Der AIBO wie auch das My Real Baby ermutigen Menschen dazu, sich Roboter im Alltagsleben vorzustellen. Das ist nicht überraschend. Schließlich sind es keine Außerirdischen, sondern ein Hund und ein Baby. Überraschend ist, dass die mit diesen Robotern verbrachte Zeit nicht nur, wie wir bereits gesehen haben, Fantasien über beiderseitige Zuneigung weckt, sondern auch den Gedanken, dass Roboter für uns sorgen werden. Anders ausgedrückt: Meine Gespräche über My Real Babys lassen vor meinem inneren Auge mühelos eine Zukunft erstehen, in der aus dem Roboterbaby ein Roboterbabysitter wird. Hierin sind My Real Babys und AIBOs evokative Objekte: Sie verschaffen Menschen eine Möglichkeit, über ihre enttäuschenden Mitmenschen zu sprechen – über Eltern und Babysitter und Pflegeheimpersonal – und sich vorzustellen, von einem
Roboter besser versorgt zu werden. Als ein Fünftklässler anmerkt, dass der AIBO keinen Nutzen für einen älteren Menschen habe, widersprechen ihm seine Klassenkameraden. Sie stellen klar, dass sie nicht speziell über den Roboterhund sprächen. »AIBO ist nur einer, aber es wird noch viele andere geben.«
Als ich diese Fantasie – Kinder, die vorschlagen, dass die Nachfolger dieser primitiven Roboter sie eines Tages versorgen werden – zum ersten Mal hörte, war ich verblüfft. Aber genau genommen ist die Idee in unserer Kultur inzwischen weit verbreitet. In der traditionellen Science-Fiction von Frankenstein bis zu den Chucky -Filmen wurde das Leblose, das zum Leben erwacht, zumeist als etwas Furchterregendes dargestellt. Mittlerweile aber stellt man es auch als etwas Bereicherndes, beinahe Erlösendes dar. In Star Wars verkörpert R2D2 den Traum vom hilfreichen Kumpel, den jedes Kind hegt. In Steven Spielbergs A.I.: Künstliche Intelligenz gibt die Liebe eines Roboters einer trauernden Mutter neue Hoffnung. In Disneys Wall-E rettet ein Roboter nicht nur die Welt, sondern auch die Menschen: Er erinnert sie daran, wie man liebt. In 9 sind die Menschen ausgestorben, aber die Roboter, die es noch gibt, haben sich verpflichtet, menschliche Werte zu achten. Eine neu entstehende Mythologie zeichnet das Bild vom wohlwollenden Roboter.
Meine »My Real Baby«-Studie findet mit Kindern zwischen vier und vierzehn Jahren statt. Einige spielen mit dem Roboter in meinem Büro. Einige begegnen ihm in Klassenzimmern oder Nachmittagsspielgruppen. Andere nehmen das Roboterbaby für zwei oder drei Wochen mit nach Hause. Weil es ein Roboter ist, der ein Baby repräsentiert, lässt er die Kinder über Familiendinge reden, über Fürsorglichkeit und Zuwendung, wie viel davon sie bekommen und wie viel mehr sie gerne hätten. Kinder sprechen über arbeitende Mütter, abwesende Väter und einsame Großeltern. Es wird viel über Scheidung gesprochen. Einige der Kinder fragen sich, ob einer der
künftigen Cousins dieses Roboters wohl ein brauchbarer Babysitter sein werde; etwas Mechanisches könnte verlässlicher sein als die Fürsorge, die sie momentan erhalten. 1
Viele der Kinder, mit denen ich arbeite, kehren nach der Schule in eine leere Wohnung zurück und warten darauf, dass ein Elternteil oder ein älteres Familienmitglied von der Arbeit nach Hause kommt. Die einzige Ablenkung bieten oft der Fernseher oder ein Computerspiel, deshalb wirkt im Vergleich dazu ein Roboter wie die bessere Alternative. Nicole ist sieben. Beide Eltern sind Krankenpfleger. Manchmal überschneiden sich ihre Schichten, und wenn dies passiert, ist bis spätabends niemand zu Hause. Nicole glaubt, ein Roboter
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