Verloren
Ich möchte plötzlich wirklich sehr dringend diesen von fremden Menschen bevölkerten Raum verlassen.
In der Halle ist es – bei geschlossener Schiebetür – deutlich besser auszuhalten, und ich atme auf.
»Es tut mir leid«, entschuldigt sich Lorenzo. »Es geht immer sehr laut zu bei meinen Feiern, und es ist auch immer so voll. Ich kann da gar nichts mehr tun, es hat sich einfach herumgesprochen, wie viel Spaß wir hier haben, und das zieht ständig neue Leute an.«
Er lächelt, aber ich habe ein bisschen Mühe, es zu erwidern, weil sein Gesichtsausdruck so selbstzufrieden ist. Es tut ihm eigentlich kein bisschen leid, im Gegenteil, er ist sichtlich stolz darauf, dass seine Feiern so ausufern, und wundert sich eher, warum ich so deutliche Schwierigkeiten habe, mich wie seine anderen Gäste zu amüsieren.
»Ich hatte einen langen Tag und bin sehr müde, deshalb bin ich einfach nicht so in Feierlaune. Vielleicht wäre es besser, wenn ich wieder fahre«, erkläre ich in der Hoffnung, dass er mich langweilig findet und mir am besten gleich ein Taxi ruft. Aber natürlich tut er das nicht, sondern sieht mich besorgt an.
»Sie müssen sich nur ein wenig entspannen, Sophie, dann wird das schon. Es wäre doch schade, wenn Sie gleich wieder gehen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Haus – es hängen überall Bilder, die Sie interessieren dürften, und dann können Sie sich von dem Lärm erst einmal erholen.«
»Ja, das wäre nett«, sage ich, ganz die höfliche Britin, selbst wenn mir die Taxi-Variante lieber gewesen wäre. Aber alles ist besser, als mich wieder diesen Höllen-Bässen auszusetzen.
Das Haus ist weitläufiger, als ich dachte, und während wir den Rest des Erdgeschosses besichtigen, werde ich den Eindruck nicht los, dass Lorenzo es mir hauptsächlich zeigt, um anzugeben. Mir ist das unangenehm, denn es ist ein bisschen, als würde er seinen Reichtum auf besonders auffällige Weise zur Schau stellen wollen, und ich muss erneut an Matteos negative Einschätzung des Galeristen denken. Vielleicht hatte er ja doch nicht so unrecht damit, dass Lorenzo ein Blender ist, denke ich. Blenden mit dem, was er hat, will er einen nämlich schon.
Zumindest bestätigt sich mein Eindruck, dass die Kunstwerke hier besser sind als das, was ich in der Galerie gesehen habe. So besitzt er zum Beispiel ein Bronzerelief von Joseph Beuys, auf das er – zu Recht – sehr stolz ist, und in der Küche, die größer ist als meine gesamte Wohnung in Kensington, hängt ein sehr schönes, großflächiges Bild von Enrico della Torre. Die zahlreichen Angestellten des Catering-Service, die darunter auf langen Tischen sehr komplizierte Essenskreationen in Schalen und Gläsern arrangieren, haben jedoch gerade keinen Blick für diesen Altmeister der abstrakten italienischen Malerei, deshalb hätte ich dieses Gemälde woanders besser aufgehoben gefunden. Aber ich sage nichts dazu, letztlich muss Lorenzo das selbst wissen, und für eine Diskussion über die richtige Präsentation von Kunst fehlt mir im Moment einfach die Energie. Zumindest schaffe ich es, den Cocktail, dessen Wirkung viel zu stark für mich ist und den ich mit jedem Schluck immer ekelerregender und klebriger finde, unauffällig in der Küche stehen zu lassen.
Ein weiteres Werk von della Torre – Lorenzo gesteht mir, dass er ein großer Verehrer des Künstlers ist – hängt auch an der Wand, auf die man blickt, wenn man die Treppe von der Eingangshalle in den ersten Stock hinaufgeht. Oben schließt sich ein langer Flur an, dessen eine Seite eine Glasfront ist – eine von denen, die ich von draußen gesehen habe. Rechts gehen mehrere Türen ab, dann biegt der Flur um eine Ecke und führt in einen weiteren Teil des Hauses. Statt eines Steinfußbodens wie unten liegt hier ein dunkler, hochfloriger Teppichboden, der sehr schalldämmend wirkt. Die Musik dröhnt natürlich trotzdem noch von unten herauf, aber irgendwie klingt sie jetzt angenehm gedämpft, und auch unsere Schrittgeräusche schlucken die Wollfasern komplett.
Vielleicht höre ich das plötzliche Geräusch deshalb so deutlich. Irritiert blicke ich Lorenzo an, der jedoch weitergeht, als hätte er gar nichts registriert. Also tue ich es als Einbildung ab.
»Und dieses wunderbare Gemälde von Salvatore Amiotti habe ich gerade erst aufhängen lassen«, erklärt er mir und bleibt vor einem schmalen, sehr hohen Bild stehen, das zwischen den ersten beiden Türen hängt. »Er ist ein junger Künstler aus Palermo, in den
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