Verlorene Illusionen (German Edition)
sitzt, sich dort streiten und das Unterpfand der Versöhnung geben konnte, ohne fürchten zu müssen, gesehen zu werden. Der einzige Störenfried konnte der Veteran sein, der an dem kleinen Tor der Rue de l'Ouest Posten stand, wenn es sich der ehrwürdige Soldat etwa einfallen ließ, die Zahl der Schritte, mit denen er immer hin und her geht, zu vergrößern. In dieser Allee, auf einer Bank zwischen zwei Linden, hörte Etienne die Sonette, die Lucien als Probe aus den ›Margueriten‹ ausgewählt hatte. Etienne Lousteau, der nach zwei Jahren Lehrlingszeit als Journalist den Fuß im Steigbügel und unter den berühmten Männern der Zeit einige Freunde hatte, war in Luciens Augen eine gewichtige Person. So hielt es unser Provinzdichter, während er in dem Manuskript der ›Margueriten‹ hin und her blätterte, für nötig, eine Art Vorrede zu halten.
»Das Sonett ist eine der schwierigsten Aufgaben der Poesie. Man hat diese kleine Dichtungsgattung recht vernachlässigt. Niemand in Frankreich hat es mit Petrarca aufnehmen können, dessen Sprache viel geschmeidiger als unsere ist, und Gedankenspiele zuläßt, die unser Positivismus – verzeihen Sie dieses Wort – zurückweist. Ich hielt es also für originell, zuerst mit einer Sammlung Sonette herauszukommen. Victor Hugo hat die Ode gewählt, Canalis vertritt die leichte Gattung, Béranger hat das Monopol für das Lied, Casimir Delavigne hat die Tragödie und Lamartine die Gedankendichtung in Besitz.«
»Gehören Sie zur klassischen oder zur romantischen Richtung?« fragte ihn Lousteau.
Die erstaunte Miene Luciens verriet eine so völlige Unkenntnis von dem Stand der Dinge in der Republik der schönen Literatur, daß Lousteau es für nötig hielt, ihn aufzuklären.
»Mein Lieber, Sie treffen zu einer Zeit ein, wo eine Schlacht im vollen Gange ist. Sie müssen sich schnell entscheiden. Die Literatur ist von Anfang an in verschiedene Zonen eingeteilt; aber unsere großen Männer sind in zwei Lager auseinandergefallen. Die Royalisien sind Romantiker, die Liberalen sind Klassiker. Die Meinungsverschiedenheit auf literarischem Gebiete kommt zu der politischen Meinungsverschiedenheit, und es ergibt sich daraus ein Krieg, der zwischen den aufsteigenden und den entthronten Berühmtheiten mit allen Waffen geführt wird, mit Strömen Tinte, mit Witzworten, die wie Dolchstiche wirken, mit scharfen Verleumdungen, mit beleidigenden Spitznamen. Grotesk und seltsam ist es dabei, daß die romantischen Royalisten literarische Freiheit und die Aufhebung der Gesetze verlangen, die unserer Literatur konventionelle Formen geben, während die Liberalen die Einheiten, den Alexandriner und das klassische Thema beibehalten wollen. Die literarischen Anschauungen widerstreiten also in jedem Lager den politischen. Wenn Sie Eklektiker sind, haben Sie keinen Menschen für sich. Auf welche Seite schlagen Sie sich?«
»Welche sind die Stärkeren?«
»Die liberalen Zeitungen haben viel mehr Abonnenten als die royalistischen und ministeriellen; trotzdem dringt Canalis durch, obwohl er monarchisch und religiös ist, obwohl er vom Hof und von der Geistlichkeit protegiert wird. – Bah! Sonett, das ist Literatur aus der Zeit vor Boileau«, sagte Etienne, als er sah, wie Lucien erschreckt war, daß er zwischen zwei Bannern wählen sollte. »Seien Sie Romantiker; die Romantiker sind junge Leute, und die Klassiker sind Perücken: die Romantiker werden siegen.«
Das Wort ›Perücke‹ war die letzte Bezeichnung, die die Journalisten der Romantiker gefunden halten, um die Klassiker lächerlich zu machen.
»Das Maßliebchen« sagte Lucien und wählte damit das erste der beiden Sonette, die den Titel der Sammlung erklärten und als Einführung dienten:
Maßliebchen, mit den Farben so gewählt,
Ihr blüht nicht nur zu unsrer Augenweide;
Ein Wissen kündet ihr mit eurem Kleide
Von Liebesheimlichkeit, die uns verhehlt.
Das goldne Innere, das euch beseelt,
Von Silber eingefaßt, ist wie Geschmeide,
Daran der Spitzen Purpurrot vom Leide,
Wie es dem Sieg beschieden ist, erzählt.
Ist es, weil ihr an jenem Tag ersprossen.
Da Jesus, als er auferstand, ergossen
Des Himmels Seligkeit in unsre Brust –
Daß euch der Herbst noch einmal sieht erglänzen?
Im Herzen weckend, Sinnbild kurzer Lust,
Die Blütezeit von unsern zwanzig Lenzen.
Lucien war über die völlige Unbeweglichkeit Lousteaus, während er dieses Sonett hörte, betroffen; er kannte noch nicht die entmutigende
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