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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Macht zu erlangen: man braucht zu viele Freunde. Wo, wie und wodurch mein Brot verdienen? Diese Frage mußte ich mir vorlegen, als der Hunger näher und näher an mich herankam. Nach vielen Versuchen, nachdem ich für Doguereau einen anonymen Roman geschrieben hatte, für den er zweihundert Franken bezahlte – er hat nicht viel daran verdient –, stand es bei mir fest, daß der Journalismus einzig und allein mir Brot geben könnte. Aber wie war es möglich, in die Redaktionen einzudringen? Ich will Ihnen nicht von meinen vergeblichen Schritten und Bittgängen erzählen, auch nicht von dem halben Jahr, das ich als Volontär arbeiten, wo ich mir sagen lassen mußte, ich verscheuchte die Abonnenten, während ich sie im Gegenteil anlockte. Reden wir nicht von diesen Schändlichkeiten. Heute bespreche ich die Aufführungen der Boulevardtheater fast umsonst in dem Blatt, das Finot gehört, diesem ungeschlachten Kerl, der noch zwei- oder dreimal im Monat im Café Voltaire frühstückt – aber gehen Sie nicht hin! Finot ist Chefredakteur. Wissen Sie, wovon ich lebe? Ich verkaufe die Billette, die mir diese Theaterdirektoren geben, damit ich ihnen in der Zeitung nicht unangenehm werde, die Bücher, die mir die Verleger schicken und die ich besprechen soll. Endlich treibe ich, wenn sich erst Finot befriedigt hat, mit den Naturalien Handel, die die Industriellen uns liefern, für oder gegen die Finot mir erlaubt Artikel zu schreiben. Eine Arznei gegen Blähungen, die »Sultaninpasta«, ein Haaröl, die »brasilianische Mixtur« zahlen für ein scherzhaftes Artikelchen zwanzig oder dreißig Franken. Ich bin gezwungen, den Verleger anzukläffen, der dem Blatt wenig Exemplare gibt: die Zeitung nimmt zwei davon, die Finot verkauft, und ich bekomme zwei, die ich ebenfalls verkaufe; und wenn ein Verleger ein Meisterwerk herausbrächte, und mit den Exemplaren geizte, würde er totgeschlagen. Das ist gemein, aber ich lebe von diesem Handwerk und hundert andere wie ich! Glauben Sie aber nicht, die politische Welt wäre besser als die literarische: alles in diesen beiden Welten ist Korruption; jeder Mensch, der damit zu tun hat, korrumpiert oder wird korrumpiert. Wenn es sich um ein Verlagsunternehmen handelt, das einigermaßen bedeutend ist, dann bezahlt mich der Verleger, aus Furcht, angegriffen zu werden. Und dann stehen meine Einnahmen im Verhältnis zu den Prospekten. Wenn die Prospekte wie die Pilze aus der Erde wachsen, dann ergießt sich das Geld in Strömen in meinen Geldbeutel, und ich halte meine Freunde frei. Ist im Buchhandel nichts los, dann esse ich bei Flicoteaux. Die Schauspielerinnen zahlen auch für das Lob, aber die geschicktesten zahlen für die Kritik; was sie am meisten fürchten, ist das Totschweigen. Daher ist eine Kritik, die geeignet ist, an anderer Stelle bekämpft zu werden, mehr wert und wird höher bezahlt als ein trockenes Lob, das am nächsten Tag vergessen ist. Die Polemik, mein Lieber, ist die Grundlage der Berühmtheit. Mit diesem Handwerk des Bravos auf dem Gebiet der Ideen und des Ansehens der Gewerbetreibenden, der Literaten und Schauspieler verdiene ich monatlich fünfzig Taler, kann ich einen Roman für fünfhundert Franken verkaufen und fange an, ein gefürchteter Mann zu werden. Wenn ich nicht mehr auf Kosten eines Drogisten, der sich als Mylord aufspielt, bei Florine lebe, sondern mich selber einrichten kann; wenn ich zu einem großen Blatt komme und dort das Feuilleton redigiere, dann, mein Lieber, wird von Stund an Florine eine große Schauspielerin; und was ich alles werden kann, weiß ich nicht: Minister oder ein ehrlicher Mann, es ist noch alles möglich.« Er hob seinen gebeugten Kopf und warf einen schrecklichen Blick voller Verzweiflung und Anklage gegen die Wipfel der Bäume. »Und von mir ist eine schöne Tragödie angenommen! Und unter meinen Papieren ist eine Dichtung, die umkommen wird! Und ich war gut! Mein Herz war rein! Jetzt habe ich eine Schauspielerin vom Panorama Dramatique zur Geliebten, und früher träumte ich von den vornehmsten Frauen der großen Welt, die meine Geliebten sein sollten! Und wenn ein Verleger meinem Blatt ein Exemplar verweigert, dann mache ich ein Buch schlecht, das ich schön finde.«
    Lucien war zu Tränen gerührt und drückte Etienne die Hand.
    »Außerhalb der literarischen Welt,« sagte der Journalist, stand auf und wandte sich der großen Allee zu, die zur Sternwarte führt, in der die beiden Dichter, wie, um besser atmen zu können, auf und ab

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