Verlorene Illusionen (German Edition)
gewahrte jetzt, wie es im Innern der Menschen aussah; er sah das Räderspiel des Pariser Lebens, den Mechanismus jeden Dings. Er hatte Lousteau, als er Florine auf der Bühne bewunderte, um sein Glück beneidet. Er hatte schon ein paar Augenblicke lang Matifat vergessen. Er verweilte dabei vielleicht fünf Minuten, aber er wußte nicht wie lange. Ihm war es eine Ewigkeit. Glühende Gedanken entzündeten seine Seele, wie seine Sinne von dem Anblick dieser Schauspielerinnen entflammt worden waren: ihre Augen waren verführerisch gewesen, und die Schminke hatte sie noch blitzender gemacht, die weiße Haut des tiefen Halsausschnitts hatte ihm entgegengeleuchtet, sie waren in kecke Baskinen mit sehr freiem Faltenwurf gekleidet gewesen, hatten kurze Röckchen angehabt, hatten ihre Beine gezeigt, die in roten Strümpfen mit grünen Zwickeln steckten, und hatten Schuhe getragen, mit denen man ein Parterre in Erregung setzen konnte. Zwei Sünden näherten sich ihm auf parallelen Linien, wie zwei Wasserflächen, die in einer Überschwemmung sich vereinigen wollen. Sie verzehrten den Dichter, der, mit aufgestütztem Kopf, den Arm auf dem roten Samt der Brüstung, mit herunterhängender Hand in der Ecke seiner Loge saß, die Augen starr auf den Vorhang gerichtet. Er war um so empfänglicher für die Verführungen dieses Lebens, das aus leuchtenden Blitzen und dunklen Wolken gemischt war, weil es nach der tiefen Nacht seines arbeitsamen, zurückgezogenen, eintönigen Lebens wie ein Feuerwerk stammte. Plötzlich durchbohrte ein verliebt leuchtender Blick den Theatervorhang und wurde von den lässig vor sich hinblickenden Augen Luciens bemerkt. Der Dichter erwachte aus seiner Erstarrung und erkannte das Auge Coralies, das verzehrend nach ihm blickte; er senkte den Kopf und sah nach Camusot, der eben die gegenüberliegende Loge betrat. Dieser Liebhaber war ein guter, breiter, dicker Seidenwarenhändler aus der Rue des Bourdonnais, Handelsrichter, Vater von vier Kindern und zum zweitenmal verheiratet. Er hatte ein Jahreseinkommen von achtzigtausend Franken, aber er war sechsundfünfzig Jahre alt, hatte den Kopf voll grauer Haare, die aussahen wie eine Nachtmütze, und das scheinheilige Gesicht eines Mannes, der sein Alter genoß und das Leben nicht ohne seinen Anteil an gründlichem Vergnügen verlassen wollte, nachdem er die tausendundein Verdrießlichkeiten des Kaufmannslebens durchgemacht hatte. Diese Stirn, die eine Farbe hatte wie frische Butter, diese blühenden, an ein Mönchlein erinnernden Wangen schienen nicht breit und üppig genug, um das strahlende Vergnügen des Biedermanns fassen zu können; Camusot war ohne seine Frau und hörte den stürmischen Beifall, der Coralie zujubelte. In Coralie war die ganze Eitelkeit dieses Bourgeois verkörpert, er spielte bei ihr den großen Herrn der guten alten Zeit. In diesem Augenblick glaubte er sich die Hälfte des Erfolgs der Schauspielerin zuschreiben zu dürfen, und er glaubte es um so mehr, als er ihn bezahlt hatte. Sein Verhalten wurde durch die Gegenwart seines Schwiegervaters sanktioniert, eines kleinen alten Herrn mit gepuderten Haaren und schalkhaften Augen, der aber trotzdem sehr würdig aussah. Der Widerwille Luciens erwachte wieder, er erinnerte sich an die reine ekstatische Liebe, die er ein Jahr lang für Frau von Bargeton empfunden hatte. Sofort entfaltete die Dichterliebe ihre weißen Fittiche, tausend Erinnerungen tauchten aus blauen Fernen auf und bestürmten den großen Mann aus Angoulême, der wieder in Träumerei versank. Der Vorhang hob sich. Coralie und Florine waren auf der Bühne.
»Meine Liebe, er denkt an dich so wenig wie an den Großmogul«, sagte Florine halblaut, während Coralie eine Antwort hersagte.
Lucien konnte das Lachen nicht zurückhalten und sah Coralie an. Dieses Weib, eine der reizendsten und entzückendsten Schauspielerinnen von Paris, die Rivalin von Frau Perrin und Fräulein Fleuriet, denen sie ähnlich war und deren Schicksal auch ihres sein sollte, war der Typus der Mädchen, die mit Willen die Männer bezaubern. Coralie hatte den prächtigen Typus des jüdischen Gesichtsschnitts, das lange Oval, einen Teint wie blondes Elfenbein, einen roten Mund wie eine Granate, ein zartgeschwungenes Kinn, das dem Rand eines Bechers glich. Unter den Lidern brannte ein kohlschwarzer Augapfel, und unter den langen Wimpern ahnte man den schmachtenden Blick, aus dem wohl manchmal die Glut der Wüste funkelte. Diese Augen waren von einem olivenfarbenen
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