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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Elend ermüdet, von seiner erzwungenen Keuschheit gequält, von seinem Mönchsleben in der Rue de Cluny, von seinen Arbeiten, die zu nichts führten, matt geworden, konnte er sich diesem glänzenden Gelage entziehen? Lucien war mit einem Fuß bei Coralie im Bett, mit dem andern von dem Fangeisen der Zeitung eingefangen, zu der er so viel gelaufen war, ohne hingelangen zu können. Wie oft war er vergebens nach der Rue du Sentier gegangen, und nun fand er die Zeitung bei Tisch zwischen den Weinflaschen, aufgeräumt und guter Dinge. Er sollte für all seine Schmerzen durch einen Artikel gerächt werden, der schon am nächsten Morgen zwei Herzen durchbohren würde, denen er bis jetzt die Wut und den Schmerz noch nicht hatte entgelten lassen, mit denen sie ihn überschüttet hatten. Er sah Lousteau an und dachte sich: »Das ist ein Freund«, ohne zu ahnen, daß Lousteau ihn jetzt schon als gefährlichen Rivalen zu fürchten anfing. Lucien hatte den Fehler begangen, seinen ganzen Geist zu zeigen: ein matter Artikel wäre besser gewesen. Blondet besänftigte den Neid, der an Lousteau fressen wollte, indem er zu Finot sagte, man müßte sich dem Talent beugen, wenn es von dieser Stärke wäre. Dieses Urteil war für Lousteaus Verhalten maßgebend; er beschloß, Luciens Freund zu bleiben und sich mit Finot darüber zu verständigen, den gefährlichen Neuling auszubeuten und in Abhängigkeit zuhalten. Dieser Entschluß wurde in aller Schnelligkeit zwischen den beiden Männern mit zwei Sätzen, die sie einander ins Ohr sagten, gefaßt und in seiner ganzen Tragweite verstanden.
    »Er hat Talent.«
    »Er wird anspruchsvoll sein.«
    »Oh!«
    »Gut.«
    »Ich soupiere niemals ohne Angst mit französischen Journalisten«, sagte der deutsche Diplomat mit ruhiger und würdiger Gutmütigkeit zu Blondet, den er bei der Gräfin von Montcomet gesehen hatte. »Es gibt ein Wort von Blücher, das zu verwirklichen Ihre Aufgabe ist.«
    »Was für ein Wort?« fragte Nathan.
    »Als Blücher mit Sacken im Jahre 1814 – verzeihen Sie, meine Herren, daß ich Sie an diesen für Sie verhängnisvollen Tag erinnere – auf den Höhen von Montmartre ankam, sagte Sacken, der ein brutaler Kerl war: »Wir werden also Paris verbrennen!«
    »Tun Sie das nicht, Frankreich wird nur daran sterben!« antwortete Blücher und wies mit der Hand auf dieses große Krebsgeschwür, das sie glühend und dunstig im Tal der Seine zu ihren Füßen liegen sahen. – Ich danke Gott, daß es in meinem Lande keine Zeitungen mehr gibt«, fuhr der Minister nach einer Pause fort. »Ich habe mich noch nicht von dem Schrecken erholt, den mir der kleine Kerl mit der Papiermütze auf dem Kopf eingeflößt hat, der mit zehn Jahren die Überlegung eines alten Diplomaten besitzt. Ich muß sagen, ich habe heute abend den Eindruck, daß ich mit Löwen und Panthern zu Nacht speise, die mir die Ehre erweisen, ihre Tatzen mit Samt zu bekleiden.«
    »Es ist sicher,« sagte Blondet, »daß wir imstande sind, ganz Europa zu sagen und zu beweisen, daß Eure Exzellenz heute abend eine Schlange ausgespien haben, daß Sie beinahe Fräulein Tullia, die hübscheste unserer Tänzerinnen, von ihr beißen ließen, und wir könnten, daran anschließend, Kommentare über Eva, die Bibel, die Erbsünde und die Todsünde folgen lassen. Aber beruhigen Sie sich. Sie sind unser Gast.«
    »Das wäre drollig«, sagte Finot.
    »Wir könnten wissenschaftliche Abhandlungen über alle Schlangen drucken lassen, die man im menschlichen Herzen und im menschlichen Körper bis auf das diplomatische Korps findet«, sagte Lousteau.
    »Wir könnten irgendeine Schlange in dieser Flasche Kirschwasser finden«, sagte Vernou.
    »Sie würden es schließlich selbst glauben«, sagte Vignon zu dem Diplomaten.
    »Meine Herren, erwecken Sie nicht Ihre schlummernden Klauen!« rief der Herzog von Rhétoré.
    »Der Einfluß, die Macht der Zeitungen stehen erst in ihrem Beginn,« sagte Finot; »der Journalismus ist in seiner Kindheit, er wird wachsen. Binnen zehn Jahren wird alles der öffentlichen Meinung unterworfen sein. Der Gedanke wird alles beleuchten, er wird...«
    »Alles beflecken«, unterbrach Blondet.
    »Das ist ein Wort!« sagte Claude Vignon.
    »Er wird Könige machen«, sagte Lousteau. »Er wird die Monarchien auflösen«, sagte der Diplomat. »Zugegeben,« sagte Blondet, »wenn es keine Presse gäbe, brauchte man sie nicht zu erfinden, aber sie ist da, und wir leben davon.«
    »Sie werden daran sterben«, sagte der

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