Verlorene Illusionen (German Edition)
wichtigtuerische Albernheit! Was für eine stumpfsinnige Würde! Was für eine richterliche Unsicherheit! Wie gut weiß dieser Mann, daß alles abwechselnd falsch und wahr werden kann! Wie verdient er, Minister eines konstitutionellen Königs zu sein! Auf jede Frage des Alkalden gibt der Unbekannte eine Frage zurück, Vignol antwortet, so daß der Alkalde, der von der Antwort gefragt wird, mit seinen Fragen alles aufklärt. Diese Szene ist überaus komisch. Es atmet ein molièrischer Geist in ihr, und der ganze Zuschauerraum hat herzlich gelacht. Alle auf der Bühne schienen einig zu sein; aber ich bin nicht imstande zu sagen, was klar und was dunkel ist: da oben war die Tochter des Alkalden, und sie wurde von einer richtigen Andalusierin dargestellt, von einer Spanierin mit spanischen Augen, mit spanischem Teint, mit spanischer Taille, mit spanischem Schritt, von einer Spanierin von Kopf bis zu Fuß, mit ihrem Dolch im Strumpfband, ihrer Liebe im Herzen, ihrem Kreuz an einem Bande über der Brust. Am Ende des Akts hat mich jemand gefragt, wie die Aufführung sei, und ich habe ihm geantwortet: ›Sie hat rote Strümpfe mit grünen Zwickeln, einen winzig kleinen Fuß in Lackschuhen und das schönste Bein Andalusiens!‹ Oh, diese Tochter des Alkalden, sie bringt einem die Liebe hoch, sie gibt einem schreckliche Gelüste, man ist versucht, auf die Bühne zu springen und ihr seine Hütte und sein Herz oder dreißigtausend Franken Einkommen und seine Feder anzubieten. Diese Andalusierin ist die schönste Schauspielerin von Paris: Coralie, da man sie mit ihrem Namen nennen muß, ist imstande, Gräfin oder Grisette zu werden. Man weiß nicht, in welcher Gestalt sie mehr gefiele. Sie wird sein, was sie will, sie ist zu allem geschaffen; ist das nicht das Beste, was man von einer Boulevardschauspielerin sagen kann?
Im zweiten Akt tritt eine Spanierin aus Paris auf, mit einem Gesicht, wie aus einer Kamee geschnitten, und ihren mörderischen Augen. Ich habe gefragt, woher sie käme, und man hat mir geantwortet, sie käme aus der Kulisse und hieße Fräulein Florine; aber ich habe meiner Treu nicht daran glauben können, so viel Feuer hatte sie in ihren Bewegungen, so viel Glut in ihrer Liebe. Diese Nebenbuhlerin der Tochter des Alkalden ist die Frau eines vornehmen Herrn, der in den Mantel Almavivas gekleidet ist, aus dem man Stoff für hundert vornehme Herren des Boulevards machen könnte. Florine hatte keine roten Strümpfe mit grünen Zwickeln und keine Lackschuhe, aber sie hatte eine Mantille, einen Schleier, den sie wundervoll benutzte, die große Dame, die sie ist! Sie hat prachtvoll gezeigt, daß die Tigerin zur Katze werden kann. Ich habe an den spitzen Worten, die diese beiden Spanierinnen sich sagten, gemerkt, daß es sich um irgendein Eifersuchtsdrama handelte. Als sich dann alles gütlich schlichten wollte, hat die Dummheit des Alkalden wieder alles durcheinander gebracht. Diese ganze Welt von Fackeln, von Reichen, von Dienern, von Figaros, von Herren, von Alkalden, von Mädchen und Frauen hat wieder angefangen zu suchen, zu gehen, zu kommen, sich hin und her zu drehen. Die Intrige verwickelte sich von neuem, und ich habe sie sich verwickeln lassen, denn diese beiden Frauen, die eifersüchtige Florine und die glückliche Coralie, haben mich von neuem in die Falten ihrer Baskine, ihrer Mantille gewickelt und haben mir ihre kleinen Füße ins Auge gestoßen.
Ich konnte den dritten Akt erreichen, ohne ein Unglück anzurichten, ohne das Einschreiten des Polizeikommissars nötig gemacht oder die Zuschauer in Aufruhr gebracht zu haben; und ich glaube von jetzt an an die Macht der öffentlichen und religiösen Moral, mit der man sich in der Deputiertenkammer so viel beschäftigt, daß man glauben sollte, es gäbe keine Moral mehr in Frankreich. Ich habe so viel verstanden, daß es sich um einen Mann handelt, der zwei Frauen liebt, ohne wiedergeliebt zu werden, oder der von ihnen geliebt wird, ohne sie zu lieben, der die Alkalden nicht liebt oder den sie nicht lieben, der aber, so viel ist sicher, ein wackerer Herr ist, der irgend jemanden liebt, sich selbst oder im schlimmsten Fall Gott, denn er wird Mönch. Wer mehr davon wissen will, gehe ins Panorama Dramatique. Man weiß jetzt zur Genüge, daß man ein erstes Mal hingehen muß, um sich an diesen sieghaften roten Strümpfen mit grünen Zwickeln, an diesem vielversprechenden kleinen Fuß, an diesen Augen, aus denen ein Sonnenstrahl hervorbricht, an all den feinen
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