Verlorene Illusionen (German Edition)
Diplomat. »Sehen Sie nicht, daß die Massen, vorausgesetzt, daß Sie ihnen wirklich Aufklärung bringen, eine höhere Bildung erlangen und die Machtstellung des Individuums beeinträchtigen werden, daß Sie dadurch, daß Sie in die untern Klassen das Denken aussäen, die Revolution ernten werden und daß Sie ihre ersten Opfer sein werden? Was zerbricht man in Paris, wenn es einen Aufstand gibt?«
»Die Laternen,« sagte Nathan; »aber wir sind zu bescheiden, um Angst zu haben, wir werden nur Sprünge bekommen.«
»Sie sind ein geistig zu hochstehendes Volk, als daß Sie irgendeiner Regierung erlaubten, am Ruder zu bleiben«, sagte der Minister. »Wenn das nicht wäre, würden Sie mit Ihren Federn die Eroberung Europas wiederbeginnen, das Ihr Degen nicht behaupten konnte.«
»Die Zeitungen sind ein Übel«, sagte Claude Vignon. »Man konnte sich dieses Übels bedienen, aber die Regierung will es bekämpfen. Es kommt also sicher zum Kampf. Wer wird unterliegen? Das ist die Frage.«
»Die Regierung!« sagte Blendet, »ich höre nicht auf, es zu sagen. In Frankreich ist der Geist stärker als alles, und die Zeitungen haben außer dem Geist aller talentvollen Menschen noch dazu die Heuchelei Tartüffes.«
»Blondet, Blondet,« sagte Finot, »du gehst zu weit! Es sind Abonnenten hier.«
»Du bist Besitzer einer dieser Giftbuden, du mußt Angst haben; aber ich pfeife auf all eure Anstalten, obwohl ich davon lebe!«
»Blondet hat recht«, sagte Claude Vignon. »Die Zeitung, die ein Heiligtum hätte sein sollen, ist ein Mittel für die Parteien geworden, aus einem Mittel ist sie ein Geschäft geworden; und wie alle Geschäftsunternehmungen ist sie ohne Treu und ohne Ehrlichkeit. Jede Zeitung ist, wie es Blondet sagt, eine Bude, in der man dem Publikum Worte von der Farbe verkauft, die es haben will. Gäbe es eine Zeitung für Bucklige, dann bewiese sie morgens und abends die Schönheit, Güte und Notwendigkeit der Buckligen. Eine Zeitung ist nicht mehr dazu da, die Meinungen zu klären, sondern ihnen zu schmeicheln. Daher werden alle Zeitungen nach einiger Zeit erbärmlich, heuchlerisch, infam, lügnerisch, mörderisch sein; sie werden die Ideen, die Systeme, die Menschen töten und werden gerade dadurch blühen und gedeihen. Sie werden die Wohltat genießen, die allen imaginären Wesen zugute kommt: das Übel wird geschehen, ohne daß jemand daran schuldig ist. Wir alle, ich Vignon, du Lousteau, du Blondet, du Finot werden Aristidesse, Platone, Catone, Männer von Plutarch sein; wir werden alle unschuldig sein, wir werden uns alle die Hände von jeder Ruchlosigkeit weißwaschen. Napoleon hat für diese moralische oder, wenn Sie lieber wollen, unmoralische Erscheinung den Grund angegeben; er hat darüber ein prachtvolles Wort gesagt, auf das ihn seine Studien über den Konvent gebracht haben: »Für die Kollektivverbrechen ist niemand haftbar.« Die Zeitung kann sich das abscheulichste Benehmen gestatten, niemand glaubt, sich damit persönlich schmutzig zu machen.«
»Aber die Regierung wird Repressivgesetze einsetzen,« sagte du Bruel, »sie bereitet welche vor.«
»Bah!« sagte Nathan, »was kann das Gesetz gegen den französischen Geist, gegen dieses schärfste Scheidewasser, das es gibt?«
»Die Ideen können nur durch Ideen unwirksam gemacht werden«, fuhr Vignon fort. »Der Schrecken, der Despotismus können den französischen Geist, dessen Sprache sich so vorzüglich zur Anspielung, zum Doppelsinn eignet, nur vorübergehend ersticken. Je mehr das Gesetz unterdrücken will, um so mehr wird der Geist hervorbrechen, wie der Dampf aus einer Maschine ohne Ventil. Der König tut nur Gutes: wenn die Zeitung gegen ihn ist, so war es der Minister, der alles getan hat, und ebenso umgekehrt. Wenn die Zeitung eine niederträchtige Verleumdung erfindet, hat man sie ihr berichtet. Kommt jemand und beklagt sich, so entschuldigt sie sich mit der großen Freiheit. Wird sie vors Gericht gezogen, dann beklagt sie sich, daß man ihr keine Berichtigung geschickt hat; aber wenn man ihr eine schickt, dann lehnt sie sie lachend ab und spricht von ihrem Verbrechen wie von einer Kleinigkeit, die nicht der Rede wert wäre. Schließlich verhöhnt sie ihr Opfer, wenn es Recht bekommt. Wird sie bestraft, hat sie zuviel Geldstrafen zu zahlen, dann denunziert sie den Klagenden als einen Feind der Freiheit, des Landes und der Aufklärung. Sie wird sagen, Herr Soundso sei ein Dieb, und wird dafür die Worte wählen, er sei der ehrlichste
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