Verlorene Illusionen (German Edition)
bemerkte an Lucien den Ausdruck tiefen Nachdenkens und täuschte sich nicht über die Ursache: er hatte diesem Ehrgeizigen, ohne bestimmten Plan, aber nicht ohne Absicht, den ganzen Horizont der Politik geöffnet, wie die Journalisten ihm von der Höhe des Tempels, wie der Verführer Jesus gegenüber, die Welt der Literatur und ihre Schätze gezeigt hatten. Lucien wußte nichts von der kleinen Verschwörung, die eben die Menschen gegen ihn angezettelt hatten, die seine Zeitung in diesem Augenblick beleidigte und in deren Welt Herr von Rhétoré zu Hause war. Der junge Herzog hatte die Gesellschaft von Frau d'Espard erschreckt, als er von Luciens Geist berichtete. Frau von Bargeton hatte ihn ersucht, den Journalisten auszuhorchen, und er hatte gehofft, ihn im Ambigu Comique zu treffen. Weder die Gesellschaft noch die Journalisten hatten übrigens große Pläne gemacht. So ist es nicht um sie bestellt, ihr Machiavellismus lebt sozusagen von der Hand in den Mund und besteht darin, immer auf dem Posten und zu allem bereit zu sein, bereit, das Schlimme ebenso wie das Gute auszunutzen und auf die Augenblicke zu lauern, wo die Leidenschaft ihnen einen Menschen überliefert. Während Florinens Souper hatte der junge Herzog Luciens Charakter kennen gelernt, er nahm ihn bei seiner Eitelkeit und versuchte sich an ihm als künftiger Diplomat.
Als das Stück aus war, eilte Lucien nach der Rue Saint-Fiacre, um dort seinen Bericht zu schreiben. Seine Kritik war absichtlich scharf und beißend, es gefiel ihm, seine Macht zu zeigen. Das Melodrama war besser als das vom Panorama Dramatique; aber er wollte wissen, ob er wirklich, wie man gesagt hatte, ein gutes Stück vernichten und einem schlechten zum Erfolg verhelfen könnte. Als er am nächsten Morgen mit Coralie beim Frühstück saß, öffnete er die Zeitung, nachdem er ihr gesagt hatte, er hätte das Ambigu Comique gehörig heruntergemacht. Man kann sich sein Erstaunen denken, als er nach seinem Artikel über Frau von Bargeton und Châtelet einen Bericht über das Ambigu las, der über Nacht so süß gemacht worden war, daß er zwar seine witzige Inhaltsangabe beibehielt, aber trotzdem zu einem günstigen Schluß kam. Das Stück mußte dem Theater volle Häuser bringen. Seine Wut war unbeschreiblich; er nahm sich vor, ein Wörtchen mit Lousteau zu reden. Er hielt sich schon für unentbehrlich und faßte den Vorsatz, sich nicht wie ein beliebiger Tropf unterdrücken und ausbeuten zu lassen. Um seine Macht endgültig zu begründen, schrieb er den Artikel, in dem er für die Zeitschrift Dauriats und Finots alle Anschauungen, die über das Buch von Nathan zutage getreten waren, zusammenfaßte und abwog. Dann verfaßte er noch, da er einmal im Zuge war, eine der geistreichen Schilderungen, die er dem Blättchen zugesagt hatte. In ihrer ersten Hitze schreiben die jungen Journalisten ihre Artikel mit Liebe und verbrauchen dabei unvorsichtig genug die schönsten Blüten ihres Geistes. Der Direktor des Panorama Dramatique führte heute ein Vaudeville zum erstenmal auf, um Florine und Coralie ihren Abend zu lassen. Das Stück mußte vor dem Souper zu Ende sein. Lousteau kam, um den Artikel, den Lucien über dieses kleine Stück nach der Generalprobe im voraus verfaßt hatte, zu holen; er wollte über die kommende Nummer völlig beruhigt sein. Als Lucien ihm einen der reizenden kleinen Artikel aus dem Pariser Leben vorgelesen hatte, küßte ihn Etienne auf beide Augen und nannte ihn den guten Engel der Zeitungen.
»Warum machst du dir denn aber ein Vergnügen daraus, den Sinn meiner Artikel zu verändern?« fragte Lucien, der diesen glänzenden kleinen Artikel nur geschrieben hatte, um seinen Beschwerden mehr Nachdruck zu geben.
»Ich?« rief Lousteau.
»Ja, wer hat denn meinen Artikel verändert?«
»Mein Lieber,« versetzte Etienne lachend, »du bist in den Geschäften noch nicht recht zu Hause. Das Ambigu nimmt uns zwanzig Abonnements ab, von denen nur neun dem Direktor, dem Dirigenten, dem Regisseur, ihren Geliebten und drei Miteigentümern des Theaters zugestellt werden. Jedes der Boulevardtheater zahlt dem Blatt auf diese Weise achthundert Franken. Aber noch einmal so viel Geld wird Finot in Form von Logen gegeben, ohne die Abonnements der Schauspieler und der Autoren zu rechnen. Der Kerl holt also achttausend Franken aus den Boulevardtheatern. Schließe aus diesen kleinen Theatern auf die großen! Du verstehst: wir müssen also sehr nachsichtig sein.«
»Ich verstehe, daß ich
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