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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Feder entstanden die Schönheiten, die der Widerspruch gebiert. Er war witzig und ironisch, er erhob sich sogar zu neuen, feinen Bemerkungen über die Empfindung, die Idee und das Bild in der Literatur. Er war klug und gewitzigt genug, daß er, als er daranging, Nathan zu loben, seine ersten Eindrücke wiederfand, die er bei der Lektüre des Buches in jenem Lesekabinett gehabt hatte. Aus einem scharfen und herben Kritiker, aus einem lustigen Spötter verwandelte er sich in den Schlußsätzen in einen Dichter, und dieser poetische Abschnitt am Schluß hatte einen so majestätischen Schwung wie ein duftendes Weihrauchgefäß vor dem Altar.
    »Hundert Franken, Coralie!« sagte er und wies auf die acht Blätter Papier, die er beschrieben hatte, während sie sich ankleidete. In dem Schwung, der ihn gerade erfaßt hatte, schrieb er langsam und bedächtig auch gleich noch den schrecklichen Artikel, den er Blondet gegen Châtelet und Frau von Bargeton in Aussicht gestellt hatte. Er kostete an diesem Vormittag eine der stärksten geheimen Wonnen des Journalisten, die Bosheit zuzuspitzen, ihre kalte Klinge, die im Herzen des Opfers ihre Scheide finden soll, blank zu putzen und den Griff für das Publikum zu schmücken. Das Publikum bewundert die witzige Arbeit dieses Dolches, es merkt keine Bosheit, es weiß nicht, daß die Schärfe des Witzwortes von der Rache zugespitzt ist, daß der Dolch das Innere des Menschen, das erst gierig durchsucht worden ist, mit tausend Streichen trifft. Dieser furchtbare Genuß, der düster und einsiedlerisch ist, wenn er ohne Zeugen gekostet wird, ist wie ein Duell mit einem Abwesenden, der aus der Entfernung mit einer Federspule getötet wird, wie wenn der Journalist über jene Zauberkraft verfügte, die in den arabischen Märchen die Wünsche derer erfüllt, die Talismane besitzen. Die Bosheit ist der Geist des Hasses, der der Erbe aller schlimmen Leidenschaften des Menschen ist, wie die Liebe alle seine guten Eigenschaften einschließt. Und daher gibt es keinen Menschen, der nicht Geist hätte, wenn er sich rächt, ebenso wie es keinen gibt, dem Liebe nicht Wollust verleiht. Trotz der Leichtigkeit und Gewöhnlichkeit dieses Geistes ist er in Frankreich immer willkommen. Der Artikel Luciens mußte den Ruf, den das Blatt wegen seiner Bosheit und Bösartigkeit genoß, auf den Gipfel bringen und tat es auch; er verwundete diese beiden Herzen, Frau von Bargeton, seine gewesene Laura, und den Baron du Châtelet, seinen Nebenbuhler, tödlich.
    »Fahren wir ins Bois spazieren, die Pferde sind angespannt und stampfen vor Ungeduld,« sagte Coralie zu ihm; »du darfst dich nicht totarbeiten.«
    »Fahren wir bei Hector Merlin vorbei, ich will ihm den Artikel über Nathan bringen. Wahrhaftig, die Zeitung ist wie die Lanze des Achilles, die die Wunden heilte, die sie geschlagen hatte«, sagte Lucien, während er noch einige stilistische Änderungen vornahm.
    Die beiden Liebenden fuhren los und zeigten sich in ihrem Glanze jenem Paris, das Lucien vor kurzem erst zurückgestoßen hatte und das jetzt anfing, sich mit ihm zu beschäftigen. Paris mit sich zu beschäftigen, wenn man erst begriffen hat, was diese Stadt bedeutet, und wie schwer es ist, in ihr etwas zu sein, das erfüllt den Menschen mit Wonne, und Lucien war berauscht.
    »Lieber,« sagte die Schauspielerin, »wir wollen bei deinem Schneider vorfahren und darauf dringen, daß du deinen Anzug bekommst, oder du kannst ihn gleich probieren, wenn er so weit ist. Wenn du zu deinen vornehmen Damen gehst, will ich, daß du diesen gräßlichen Marsay, den kleinen Rastignac, die Ajuda-Pinto, die Maxime de Trailles, die Vandenesse, kurz all diese Stutzer ausstichst. Denk daran, daß Coralie deine Geliebte ist! Aber du wirst mir doch keine Streiche machen, was?«
    Zwei Tage später, am Tage vor dem Souper, das Lucien und Coralie ihren Freunden gaben, wurde im Ambigu ein neues Stück aufgeführt, über das Lucien berichten sollte. Nach ihrem Diner gingen Lucien und Coralie zu Fuß über den Boulevard du Temple, auf der Seite des Türkischen Cafés, die damals bei den Spaziergängern beliebt war, von der Rue de Vendôme nach dem Panorama Dramatique. Lucien hörte, wie man sein Glück und die Schönheit seiner Geliebten pries. Die einen nannten Coralie die schönste Frau von Paris, die andern fanden, Lucien verdiene sie. Der Dichter fühlte sich in seinem Element. Das war sein Leben. Er dachte kaum mehr an den Zirkel seiner früheren Freunde. Er fragte sich, ob

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