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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Rollen mußten Coralie aussuchen; sie war zu stolz, bei den Autoren zu betteln und sich ihren ehrlosen Bedingungen zu fügen, sich dem ersten besten Journalisten hinzugeben, der sie mit seiner Liebe und seiner Feder bedrohte. Das Talent, das in dieser außergewöhnlichen Kunst, der Schauspielkunst, schon sehr selten geworden ist, ist nur eine der Bedingungen des Erfolges; das Talent ist sogar lange schädlich, wenn es nicht von einer gewissen Begabung zur Intrige begleitet ist, die Coralie völlig fehlte. Lucien sah voraus, was für schlimme Dinge seine Freundin bei ihrem ersten Auftreten im Gymnase erwarteten, und wollte ihr um jeden Preis einen Sieg verschaffen. Das Geld, das von den verkauften Möbeln übriggeblieben war, und was Lucien verdient hatte, war alles für die Kostüme, für die Einrichtung des Ankleidezimmers, für alle Kosten eines Debüts draufgegangen. Einige Tage, bevor Coralie auftreten sollte, entschloß sich Lucien aus Liebe zu ihr zu einem demütigenden Schritt: er nahm die Wechsel von Fendant & Cavalier, begab sich in die Rue des Bourdonnais, in das Seidenhaus zum Cocon d'or, um Camusot vorzuschlagen, sie ihm zu diskontieren. Der Dichter war noch nicht so verdorben, daß er sich zu diesem Gang kalten Blutes entschließen konnte. Er stand unterwegs bittere Schmerzen aus, bei jedem Schritt bestürmten ihn schreckliche Gedanken, und er sagte sich abwechselnd: »Ja! – Nein!« Aber trotzdem sah er sich schließlich in dem kleinen, frostigen, geschwärzten, von einem innern Hof aus erleuchteten Kontor, in dem in ernster Würde nicht mehr der Liebhaber Coralies, der Verschwender, der Taugenichts, der lustige, ungläubige Camusot saß, den er gekannt hatte, sondern der ernsthafte Familienvater, der listen- und tugendreiche Kaufmann, der die Maske der würdevollen Haltung eines Handelsrichters trug und in die kühle Gelassenheit des Chefs eines Handelshauses gehüllt war, den Kommis, Regale, grüne Schachteln, Rechnungen und Musterkarten umgaben, dem überdies die Gesellschaft seiner Frau und einer sehr schlicht gekleideten Tochter nicht fehlte. Lucien zitterte von Kopf bis zu Fuß, als er auf ihn zutrat, denn der ehrenwerte Kaufmann warf ihm den Blick hochmütiger Gleichgültigkeit zu, den er schon in den Augen der Diskontierer gesehen hatte.
    »Ich habe hier Wechsel, ich wäre Ihnen tausend Dank schuldig, wenn Sie sie mir abnehmen wollten, Herr Camusot«, sagte er. Er stand neben dem Kaufmann, der an seinem Pulte saß.
    »Sie haben mir etwas abgenommen,»versetzte Camusot, »ich habe es nicht vergessen.«
    Lucien erklärte jetzt mit leiser Stimme die Lage Coralies, er flüsterte dem Seidenhändler ins Ohr, und dieser konnte das Herzklopfen des gedemütigten Dichters vernehmen. Camusot war nicht gesonnen, Coralie eine Niederlage erleiden zu lassen. Während er zuhörte, besah sich der Kaufmann die Unterschriften auf den Wechseln und lächelte; als Handelsrichter kannte er die Lage dieser beiden Buchhändler. Er gab Lucien viertausendfünfhundert Franken, stellte aber die Bedingung, daß Lucien in seinem Indossament die Worte schrieb: »Wert in Seidenwaren empfangen«. Lucien ging schnurstracks zu Braulard und erledigte mit ihm alles sehr gut, so daß Coralie einen schönen Erfolg erwarten durfte. Braulard versprach, zur Generalprobe zu kommen, und tat es auch, um die Stellen auszumachen, wo seine Garde ihre Schlegel, die aus Fleisch und Knochen bestanden, rühren und den Erfolg herbeiführen sollten. Lucien übergab Coralie den Rest seines Geldes, verbarg ihr aber den Schritt, den er bei Camusot getan hatte; er beruhigte die Aufregung der Schauspielerin und Berenices, die vor lauter Unruhe schon nicht mehr den Haushalt besorgen konnte. Martainville, der zu den Menschen gehörte, die damals am meisten vom Theater verstanden, war ein paarmal gekommen, um mit Coralie ihre Rolle durchzugehen. Lucien hatte von mehreren royalistischen Redakteuren das Versprechen günstiger Artikel erhalten, er konnte also nichts Böses befürchten. Am Tage vor dem ersten Auftreten Coralies geschah etwas, was für Lucien schlimm war. D'Arthez' Buch war erschienen. Der Chefredakteur des Blattes von Hector Merlin gab das Werk Lucien, da man ihn für den Besten hielt, der darüber berichten konnte; er verdankte seinen verhängnisvollen Ruf auf diesem Gebiete den Artikeln, die er über Nathan geschrieben hatte. Es waren eine Menge Menschen auf der Redaktion, alle Mitarbeiter waren da. Martainville war auch gekommen: es war

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