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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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liegt, wäre alles, was von mir kam, edel und gut vorgekommen! Ich habe nur noch meine Schwester, David und meine Mutter! Was denken sie von mir in der Heimat?«
    Der arme große Mann aus der Provinz kehrte nach der Rue de la Lune zurück, aber dort wurde ihm so entsetzlich zumute, als er die leere Wohnung sah, daß er sich in einem elenden Gasthof in der Straße einmietete. Die zweitausend Franken von Fräulein des Touches deckten alle Schulden, nachdem der Erlös aus dem Mobiliar noch dazugekommen war. Berenice und Lucien hatten für sich hundert Franken, von denen sie zwei Monate lebten, die Lucien in einer krankhaften Niedergeschlagenheit verbrachte: er konnte nicht schreiben und nicht denken, er überließ sich seinem Schmerz; Berenice hatte Mitleid mit ihm.
    »Wenn Sie daran denken, in Ihre Heimat zurückzukehren, wie wollen Sie hinkommen?« fragte sie und beantwortete damit einen Ausruf Luciens, der immer an seine Schwester, seine Mutter und David Séchard dachte.
    »Zu Fuß«, antwortete er. »Dann muß man auch noch unterwegs essen und schlafen. Wenn Sie jeden Tag zwölf Meilen gehen, brauchen Sie mindestens zwanzig Franken.«
    »Ich werde sie bekommen«, sagte er.
    Er nahm seine Kleider und seine schöne Wäsche, behielt nur das absolut Notwendige für sich und ging zu Samanon, der ihm für all seine Sachen fünfzig Franken anbot. Er bat den Wucherer, ihm so viel zu geben, daß er den Postwagen nehmen könnte; er konnte ihn aber nicht erweichen. In seiner Wut ging Lucien, so wie er war, zu Frascati, versuchte sein Glück und kam ohne einen Heller wieder herunter. Als er wieder in seiner elenden Kammer in der Rue de la Lune war, verlangte er von Berenice Coralies Schal. Nachdem Lucien ihr seinen Spielverlust eingestanden hatte, wußte das gute Mädchen mit einem einzigen Blick, was der arme Dichter in seiner Verzweiflung vorhatte: er wollte sich erhängen.
    »Sind Sie verrückt geworden?« sagte sie. »Gehen Sie spazieren und kommen Sie um Mitternacht wieder, ich werde das Geld beschaffen, das Sie brauchen; aber bleiben Sie auf den Boulevards und gehen Sie nicht an die Kais.«
    Lucien lief auf den Boulevards herum. Der Schmerz hatte ihn fast stumpfsinnig gemacht. Er sah die Equipagen, die Spaziergänger und fand sich winzig und verlassen in dieser Menge, die, von den tausenderlei Pariser Interessen gepeitscht, herumwirbelte. In Gedanken sah er die Ufer der Charente, und etwas wie Sehnsucht nach den Freuden der Familie überkam ihn. Er hatte jetzt einen der blitzartig plötzlichen Einfälle, die all diese weiblichen Naturen täuschen: er wollte das Spiel nicht aufgeben, ehe er sein Herz in das Herz David Séchards ausgeschüttet, ehe er den Rat der drei Schutzengel gehört hätte, die ihm geblieben waren. Als er so durch die Straßen schlenderte, sah er an der Ecke der Rue de la Lune auf dem schmutzigen Boulevard Bonne-Nouvelle Berenice im Sonntagsstaat bei einem Manne stehen. Bei diesem Anblick stieg ihm ein furchtbarer Verdacht auf, und er rief: »Was machst du da?«
    »Hier sind zwanzig Franken, die vielleicht teuer zu stehen kommen, aber Sie können nun in die Heimat gehen«, antwortete sie und steckte Lucien rasch vier Hundertsousstücke zu.
    Berenice lief davon, ohne daß Lucien sah, wo sie hingekommen war, denn zu seinem Lobe muß gesagt werden, daß ihm dieses Geld in der Hand brannte und er es zurückgeben wollte; aber er mußte es wie ein letztes Brandmal des Pariser Lebens behalten.

Die Leiden des Erfinders
    Am Tage darauf ließ Lucien seinen Paß beglaubigen, kaufte sich einen Stock und nahm an dem Platz bei der Rue d'Enfer einen Torwagen, der ihn für zehn Sous nach Longjumeau fuhr. In der ersten Nacht schlief er im Stall eines Pachthofes zwei Meilen von Arpajon. Als er Orleans erreicht hatte, war er schon sehr schlaff und hinfällig; aber ein Schiffer fuhr ihn für drei Franken nach Tours, und während der Fahrt brauchte er für seine Nahrung nicht mehr als zwei Franken. Von Tours nach Poitiers ging Lucien fünf Tage. Ein gutes Stück hinter Poitiers besaß er nur noch hundert Sous, aber er nahm seine letzte Kraft zusammen, um weiterzugehen. Einmal wurde er auf einer weiten Ebene von der Nacht überrascht und beschloß eben, die Nacht im Freien zuzubringen, als er am Ende eines Hohlweges eine Kalesche bemerkte, die den Hügel heraufkam. Ohne daß der Postillion, die Reisenden und ein Kammerdiener, der auf dem Bock saß, es merkten, konnte er sich hinten zwischen zwei Koffer verstecken, setzte

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