Verlorene Illusionen (German Edition)
inbegriffen, nicht mehr als zweihundert Franken kostete. Sowie Berenice gegangen war, setzte sich der Dichter an den Tisch neben die Leiche seiner armen Geliebten und verfaßte so die zehn Lieder, die lustige Einfälle und sangbare Weisen verlangten. Er stand entsetzliche Qualen aus, ehe er arbeiten konnte; aber er zwang schließlich seinen Geist in den Dienst der Notwendigkeit, als ob er kein Leid kenne. Er bestätigte bereits das schreckliche Urteil Claude Vignons über die Trennung des Herzens vom Hirn. Was war das für eine Nacht, in der der unglückliche junge Mensch neben dem Priester, der für Coralie betete, beim Schein der Wachskerzen Lieder für Straßensänger verfaßte! ... Am nächsten Morgen versuchte Lucien, der mit seinem letzten Lied fertig geworden war, es einer Melodie anzupassen, die damals beliebt war; als sie ihn singen hörten, fürchteten Berenice und der Priester, er wäre verrückt geworden:
Freunde! Nicht taugt die Moral
Zum Lied, längst schwor ich sie ab;
Wen schert Vernunft, der einmal
Sich ganz der Tollheit ergab!
Kein Lied ist zu schlecht,
Wenn mit Huren man zecht,
Epikur stellt es fest.
Wird Apollo bekränzt.
Wenn uns Bacchus kredenzt?
Trinkt, lacht!
Zum Teufel den Rest!
Hundert Jahre versprach
Hippokrates jedem Kumpan.
Wird auch das Bein schließlich schwach,
Was kommt es uns darauf an?
Wenn nur die Hand bis zuletzt,
Die das Glas an die Lippe setzt,
Nicht locker läßt –.
Komme das Alter heran,
Stoßt mit mir an,
Trinkt, lacht!
Zum Teufel den Rest!
Wie er zur Welt kam, versteht
Vortrefflich ein jeder Wicht,
Aber fragst du, wohin er geht,
So weiß es der Klügste nicht.
Doch spar dir darob den Verdruß,
Überlaß dem Himmel den Schluß,
Daß wir sterben, steht fest.
Doch ist nicht minder gewiß,
Daß wir leben; das andre vergiß!
Trinkt, lacht!
Zum Teufel den Rest!
In dem Augenblick, als der Dichter diese gräßliche letzte Strophe fertig gesungen hatte, traten Blanchon und d'Arthez ein und fanden ihn im Paroxysmus der Verzweiflung. Er vergoß einen Strom von Tränen und hatte nicht mehr die Kraft, seine Lieder ins reine zu schreiben. Als er unter vielem Schluchzen seine Lage erklärt hatte, sah er in den Augen seiner Zuhörer Tränen.
»Dies«, sagte d'Arthez, »tilgt viele Schuld.«
»Wohl denen, die die Hölle hienieden finden«, sagte der Priester ernst.
Das Bild dieser schönen Toten, deren Lächeln schon aus der Ewigkeit stammte, der Anblick ihres Geliebten, der ihr mit frechen Versen ein Grab kaufte, die Vorstellung, daß Barbet den Sarg bezahlte, diese vier Kerzen um diese Schauspielerin, deren Baskine und rote Strümpfe mit grünen Zwickeln noch vor kurzem einen ganzen Zuschauerraum zu Beifallsausbrüchen gebracht hatten, dann der Priester an der Tür, der sie mit Gott versöhnt hatte und jetzt zur Kirche ging, um für die, die viel geliebt hatte, eine Messe zu sprechen, all diese Hoheit und diese Niedrigkeit, dieses Leid, das von der Not verdrängt wurde, all das versteinerte den großen Schriftsteller und den großen Arzt, die sich hinsetzten, ohne ein Wort herausbringen zu können. Ein Lakai trat ein und meldete Fräulein des Touches an. Das schöne Mädchen verstand alles, sie trat rasch auf Lucien zu, drückte ihm die Hand und gab ihm heimlich zwei Tausendfrankennoten.
»Es ist zu spät«, sagte er und warf ihr einen schmerzlichen Blick zu.
D'Arthez, Bianchon und Fräulein des Touches gingen erst, nachdem sie alles getan hatten, um Luciens Verzweiflung mit den liebevollsten Worten zu mildern; aber in ihm war alles wie zerbrochen. Gegen Mittag fanden sich die Mitglieder des Zirkels außer Michel Chrestien – der indessen über das Maß von Luciens Schuld aufgeklärt worden war – in der kleinen Kirche Bonne-Nouvelle ein, wo außerdem noch Berenice und Fräulein des Touches, zwei Statistinnen des Gymnase, Coralies Ankleidemädchen und der unglückliche Camusot anwesend waren. Alle Männer begleiteten die Schauspielerin bis zum Kirchhof Père-Lachaise. Camusot, der heiße Tränen vergoß, versprach Lucien feierlich, er werde ein Grab für ewige Zeiten kaufen und auf ihm eine Säule errichten lassen, auf der der Name
Coralie
stünde, und darunter:
Im Alter von neunzehn Jahren gestorben im August 1822
Lucien blieb bis zum Sonnenuntergang allein auf diesem Grabhügel, von dem aus er auf Paris herabblickte.
»Wer liebt mich nun?« fragte er sich. »Meine wahren Freunde verachten mich. Ich hätte tun können, was ich wollte, der, die da unten
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