Verlorene Illusionen (German Edition)
sich so, daß die Stöße des Wagens ihn möglichst wenig trafen, und schlief ein. Als ihn am Morgen die Sonne, die auf seine Augen fiel, und eine laute Stimme weckten, sah er, daß er in Mansle war, in dem Städtchen, in dem er vor anderthalb Jahren, das Herz voller Liebe, Hoffnung und Freude, auf Frau von Bargeton gewartet hatte. Er sah sich mit Staub bedeckt und Neugierige und Postillione um sich herumstehen und merkte, daß er entdeckt war; er sprang auf die Füße und wollte eben etwas sagen, als zwei Reisende, die aus der Kalesche gestiegen waren, ihm das Wort abschnitten: er sah den neuen Präfekten der Charente, den Grafen Sixtus du Châtelet, und seine Frau Louise von Nègrepelisse.
»Wenn wir gewußt hätten, welchen Reisegefährten der Zufall uns gegeben hat ...« sagte die Gräfin. »Wollen Sie nicht zu uns einsteigen?«
Lucien grüßte das Paar kühl und warf ihm einen zugleich schüchternen und drohenden Blick zu; dann entfernte er sich auf einem Seitenwege, der aus Mansle hinausführte. Er wollte einen Bauernhof suchen, wo er Brot und Milch zum Frühstück bekommen, sich ausruhen und in Ruhe über seine Zukunft nachdenken konnte. Er besaß noch drei Franken. Der Dichter der ›Margueriten‹ lief, vom Fieber vorwärts getrieben, noch lange; er wanderte den Fluß entlang talabwärts und betrachtete die Landschaft, die immer malerischer wurde. Gegen Mittag erreichte er eine Stelle, wo der breite Wasserspiegel eine Art von Weiden umgebenen See bildete. Er verweilte, um dieses dichte, erfrischende Wäldchen zu betrachten, dessen ländliche Anmut seine Seele bewegte. Zwischen den Wipfeln gewahrte er das Strohdach eines Hauses, das neben einer Mühle an einem Arm des Flusses gelegen war. Als einziger Schmuck standen einige Büsche Jasmin, Geißblatt und Hopfen davor, und ringsherum wuchs blühender Phlox. Auf dem Mauerwerk, das die Straße vor dem Hochwasser zu schützen bestimmt war, sah er Netze in der Sonne liegen. In dem klaren Teich neben der Mühle, der zwischen den beiden Wasserläufen lag, die brausend die Räder trieben, schwammen Enten. Die Mühle klapperte. Auf einer ländlichen Bank sah der Dichter eine behäbige Frau sitzen, die strickte und auf ein Kind achtgab, das die Hühner neckte.
»Gute Frau,« sagte Lucien und trat näher, »ich bin sehr müde, habe das Fieber und besitze nur noch drei Franken; wollen Sie mich eine Woche lang auf dem Stroh schlafen lassen und mir Schwarzbrot und Milch geben? Mittlerweile kann ich meinen Verwandten schreiben, die mir Geld schicken oder mich hier abholen.«
»Gern,« sagte sie, »falls mein Mann will. – He, Mann, komm doch mal her!«
Der Müller kam heraus, sah Lucien an, nahm seine Pfeife aus dem Mund und sagte: »Drei Franken für eine Woche? Wir werden Ihnen gar nichts abnehmen.«
»Vielleicht werde ich schließlich noch Müllerknecht«, sagte der Dichter zu sich selbst, als er, ehe er sich in das Bett legte, das ihm die Müllerin bereitet hatte, die entzückende Landschaft betrachtete. Dann schlief er und schlief so lange, daß seine Wirte ängstlich wurden.
»Courtois, sieh doch nach, ob der junge Mann tot oder lebendig ist; es sind jetzt vierzehn Stunden, daß er sich hingelegt hat, ich traue mich nicht hinaufzugehen«, sagte die Müllerin am nächsten Tag gegen zwölf Uhr mittags.
»Ich glaube,« sagte der Müller und fuhr fort, seine Netze und sein Fischgerät in Ordnung zu bringen, »der hübsche Bursche könnte so ein schwächlicher Schauspieler sein, der keinen Heller besitzt.«
»Woran siehst du denn das, Mann?« fragte die Müllerin.
»Na ja doch, er ist weder ein Prinz, noch Minister, noch Deputierter, noch Bischof; warum sind seine Hände also weiß wie die eines Menschen, der nichts tut?«
»Es ist doch sehr sonderbar, daß der Hunger ihn nicht weckt«, sagte die Müllerin, die für den Gast, den der Zufall ihr in das Haus geschickt, ein Frühstück bereitet hatte. »Ein Schauspieler?« wiederholte sie; »wohin sollte er gehen? Es ist noch nicht die Zeit des Jahrmarkts in Angoulême.«
Der Müller und die Müllerin hatten keine Ahnung, daß es neben dem Schauspieler, dem Prinzen und dem Bischof eine Art Mensch gibt, der zugleich Prinz und Schauspieler ist und ein wundervolles heiliges Amt verwaltet: den Dichter, der nichts zu tun scheint und trotzdem, wenn es ihm gelungen ist, sie darzustellen, ein Herrscher der Menschheit ist.
»Was soll er denn also sein?« sagte Courtois zu seiner Frau.
»Am Ende war es gefährlich, ihn
Weitere Kostenlose Bücher