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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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aufzunehmen«, meinte die Müllerin.
    »Bah! die Diebe sind schlauer als der, da wären wir schon ausgeplündert«, versetzte der Müller.
    »Ich bin weder Prinz, noch Dieb, noch Bischof, noch Schauspieler«, sagte Lucien, der plötzlich hinzutrat und ohne Zweifel vom Fenster aus das Gespräch der Frau mit ihrem Manne gehört hatte, in traurigem Ton. »Ich bin ein armer abgematteter junger Mann und bin von Paris zu Fuß hierhergegangen. Ich heiße Lucien von Rubempré und bin der Sohn des Herrn Chardon, des Vorgängers von Postel, der die Apotheke in Houmeau hat. Meine Schwester hat David Séchard geheiratet, den Buchdrucker von der Place de Mûrier in Angoulême.«
    »Warten Sie mal!« sagte der Müller. »Ist dieser Drucker nicht der Sohn des alten Schlaukopfs, der sein Gut in Marsac bewirtschaftet?«
    »Eben der«, antwortete Lucien.
    »Ein kurioser Vater, muß ich sagen!« fuhr Courtois fort. »Er läßt, sagt man, bei seinem Sohne alles versteigern, und dabei besitzt er über zweimalhunderttausend Franken in Grund und Boden, ohne seine Sparbüchse zu rechnen.«
    Wenn Seele und Leib nach einem langen und schmerzlichen Kampfe zusammengebrochen sind, dann folgt auf die Stunde, wo die Kraft versagt, der Tod oder eine totenähnliche Vernichtung, in der aber die widerstandsfähigen Naturen dann wieder neue Kräfte gewinnen. Lucien, der sich in einer solchen Krise befand, schien in dem Augenblick, wo er die, wenn auch unbestimmte Nachricht von einer Katastrophe erhielt, die über seinen Schwager David Séchard hereingebrochen war, fast vernichtet zu sein.
    »Oh, meine Schwester!« rief er; »mein Gott, was habe ich getan, ich bin ein Elender.«
    Bleich und matt wie ein Sterbender sank er auf eine Holzbank, die Müllerin brachte ihm schnell einen Napf Milch und zwang ihn zu trinken, aber er bat den Müller, ihm beizustehn und ihn ins Bett zu bringen, und bat ihn um Verzeihung, daß er ihm mit seinem Tod Ungelegenheiten mache, denn er glaubte, sein letztes Stündlein wäre gekommen. Der Dichter sah den Tod vor Augen und bekam religiöse Gedanken: er wollte den Geistlichen sehen, beichten und die Sakramente empfangen. Diese Klagen, die ein schöner Jüngling mit schwacher Stimme stöhnte, rührten Frau Courtois sehr.
    »Hör mal, Mann, steig aufs Pferd und hole Herrn Marron, den Arzt von Marsac; er wird sehen, was der junge Mann hat, der mir gar nicht gefallen will, und du bringst auch den Geistlichen mit. Vielleicht wissen sie besser als du, wie es mit diesem Drucker von der Place du Mûrier steht, da Postel der Schwiegersohn des Herrn Marron ist.«
    Als Courtois fort war, brachte die Müllerin, die wie alle Menschen vom Lande den festen Glauben hatte, wenn ein Mensch krank wäre, müßte er tüchtig essen, Lucien, der alles mit sich machen ließ, sein Frühstück. Die heftigen Gewissensbisse, die ihm zusetzten, entrissen ihn, unterstützt durch den kräftigen Gegenreiz, den diese Art von Medizin bewirkte, seiner Niedergeschlagenheit.
    Die Mühle von Courtois war eine Meile von Marsac, der Hauptstadt des Bezirks, gelegen, die auf dem halben Weg zwischen Mansle und Angoulême liegt. Daher war der wackere Müller mit dem Arzt und dem Geistlichen von Marsac bald wieder zur Stelle. Diese beiden Männer hatten von der Liebschaft Luciens mit Frau von Bargeton sprechen hören, und da das ganze Departement der Charente in diesem Augenblick von der Verheiratung dieser Dame und ihrer Rückkehr nach Angoulême mit dem neuen Präfekten, dem Grafen Sixtus du Châtelet, sprach, waren der Arzt und der Geistliche, als sie hörten, daß Lucien bei dem Müller war, sehr neugierig, etwas von den Gründen zu hören, die die Witwe des Herrn von Bargeton gehindert hatten, den jungen Dichter zu heiraten, mit dem sie seinerzeit geflohen war, und zu erfahren, ob er ins Land zurückkäme, um seinem Schwager David Séchard zu helfen. Neugier und Menschlichkeit vereinigten sich also, dem sterbenden Dichter schnelle Hilfe zu bringen. Und so hörte Lucien zwei Stunden, nachdem Courtois weggeritten war, auf dem steinigen Mühldamm das Kabriolett des Landarztes herbeirasseln. Die Herren Marron – der Arzt war der Neffe des Geistlichen – traten sofort in Luciens Zimmer, so daß Lucien in diesem Augenblick Leute vor sich sah, die zu dem Vater David Séchards in so naher Beziehung standen, wie sie Nachbarn in einem Winzerstädtchen haben können. Als der Arzt den Sterbenden betrachtet, ihm den Puls gefühlt und die Zunge angesehen hatte, sah er die

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