Verlorene Illusionen (German Edition)
edelmütigen Vertrauen, wie es die Kutscher bezeigen, die einen in der Stadt herumfahren, seiner Großmut überlassen war. Frau Séchard schuldete Petit-Claud ungefähr dreihundertfünfzig Franken und das Honorar. Der alte Séchard schuldete seine vierhundertvierunddreißig Franken fünfundsechzig Centimes, und Petit-Claud verlangte von ihm hundert Taler Honorar. So konnte die Gesamtsumme etwa zehntausend Franken erreichen. Abgesehen von der Nützlichkeit dieser Dokumente für die fremden Völker, die daraus ersehen können, wie die juristische Artillerie in Frankreich beschaffen ist, ist es notwendig, daß der Gesetzgeber, wenn er überhaupt Zeit zu lesen hat, erfahre, wie weit der Mißbrauch der Prozeßordnung gehen kann. Müßte man nicht schleunigst ein kleines Gesetz machen, durch das in gewissen Fällen den Anwälten verboten würde, höhere Kosten zu machen, als die Summe des Streitobjekts beträgt? Liegt nicht etwas Lächerliches darin, dieselben Formalitäten für einen Quadratmeter Land anzuwenden wie für ein ausgedehntes Landgebiet? Man ersieht aus dieser sehr trockenen Darstellung aller Phasen, durch die der Streit hindurchging, was die Worte: die Form, die Justiz, die Kosten bedeuten, von denen die übergroße Mehrheit der Franzosen keine Ahnung hat. Das nennt man in der Sprache, die in den Gerichtsgebäuden gesprochen wird: die Geschäfte eines Mannes in Grund und Boden prozessieren. Das Letternmaterial der Druckerei, das fünfzig Zentner wog, war neu nicht mehr als zweitausend Franken wert. Die drei Pressen hatten einen Wert von sechshundert Franken. Die übrige Einrichtung wäre als altes Eisen und altes Holz verkauft worden. Die Wohnungseinrichtung hätte höchstens tausend Franken gebracht. So hatten Cachan und Petit-Claud Werte, die Séchard jr. gehörten und eine Summe von ungefähr viertausend Franken repräsentierten, zum Anlaß genommen, siebentausend Franken Kosten entstehen zu lassen, – ohne von der Zukunft zu reden, deren Blüte noch schöne Früchte versprach, wie man sehen wird. Gewiß werden die Anwälte von Frankreich und Navarra, sogar von der Normandie, Petit-Claud ihre Achtung und ihre Bewunderung zollen; aber wird nicht, wer ein Herz hat, für Kolb und Marion eine Träne des Mitgefühls haben?
Während dieses Krieges saß Kolb, wenn David ihn nicht brauchte, vor der Haustür auf einem Stuhl und erfüllte die Pflichten eines Zerberus. Er nahm die juristischen Aktenstücke in Empfang, wobei er übrigens immer von einem Schreiber Petit-Clauds überwacht wurde. Als die Plakate die Versteigerung einer Druckereieinrichtung ankündigten, riß Kolb sie ab, sowie der Zettelanschläger sie angebracht hatte, lief durch die Stadt, um sie überall abzureißen, und rief dabei: »Die Spitzbuben! Einen braven Mann so zu quälen! Und das nennen sie Justiz!«
Marion verdiente am Vormittag mit dem Drehen einer Maschine in einer Papierfabrik ein Zehnsousstück und verwandte es zu den täglichen Ausgaben. Frau Chardon hatte, ohne zu murren, ihre ermüdende Tätigkeit als Krankenpflegerin wieder aufgenommen und brachte ihrer Tochter am Ende jeder Woche ihren Verdienst. Sie hatte schon zwei neuntägige Andachten gemacht und wunderte sich, daß Gott für ihre Gebete taub und für den Glanz der Kerzen, die sie ihm anzündete, blind blieb.
Am zweiten September erhielt Eva den einzigen Brief, den Lucien nach jenem Brief geschrieben hatte, in dem er seinem Schwager von den drei Wechseln, die er in Umlauf gesetzt hatte, Mitteilung gemacht und den David vor seiner Frau verborgen hatte.
»Das ist nun der dritte Brief, den ich von ihm seit seiner Abreise bekomme«, sagte sich die arme Schwester und zögerte, das verhängnisvolle Schreiben zu öffnen.
Sie gab gerade ihrem Kinde zu trinken, sie ernährte es mit der Flasche; denn sie war gezwungen gewesen, um der Ersparnis willen, die Amme zu entlassen. Man kann sich denken, in welchen Zustand sie und ebenso David, den sie weckte, der folgende Brief versetzte. Der Erfinder hatte sich, nachdem er die ganze Nacht mit der Herstellung seines Papiers beschäftigt gewesen war, gegen Morgen hingelegt gehabt.
»Paris, 29. August.
Liebe Schwester!
Vor zwei Tagen gegen fünf Uhr früh hat eins der schönsten Geschöpfe Gottes das Leben ausgehaucht. Sie war vielleicht das einzige weibliche Wesen, das mir gut sein konnte, wie Du, wie David und meine Mutter mir gut sind, und sie fügte diesen uneigennützigen Gefühlen noch hinzu, was Mutter und Schwester nicht geben
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