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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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geben, diesen Brief brachte, holte Cérizet, dem Petit-Claud gesagt hatte, daß dieser Brief wahrscheinlich kommen würde, Fräulein Signol ab und ging mit ihr am Ufer der Charente spazieren. Es gab ohne Zweifel einen Kampf, in dem die Ehrenhaftigkeit Henriettens sich lange wehrte, denn der Spaziergang dauerte zwei Stunden. Es stand nicht nur das Interesse eines Kindes, sondern noch eine ganze glückliche Zukunft, ein Vermögen auf dem Spiel; und was Cérizet verlangte, war eine Kleinigkeit; er hütete sich übrigens wohl, ein Wort von dem verlauten zu lassen, was die Kleinigkeit zur Folge haben würde. Nur der außerordentlich hohe Preis, der für diese Kleinigkeit bezahlt werden sollte, schreckte Henriette. Trotzdem setzte es Cérizet schließlich bei seiner Geliebten durch, daß sie sich seinem Kriegsplan zur Verfügung stellte. Um fünf Uhr sollte Henriette weggehen, und bei der Rückkehr sollte sie Fräulein Clerget sagen, Frau Séchard lasse sie bitten, sofort zu ihr zu kommen. Dann sollte sie eine Viertelstunde nach Basinens Weggehen hinaufgehen, an die Kammertür pochen und David den gefälschten Brief von Lucien geben. Was weiter kommen würde, überließ Cérizet dem Zufall.
    Zum erstenmal seit über einem Jahre fühlte Eva den eisernen Reif, mit dem die Not sie umklammerte, lockerer werden. Sie faßte endlich Hoffnung. Auch sie wollte nun ihres Bruders froh werden, sich am Arm des Mannes zeigen, der in seiner Vaterstadt gefeiert, von den Frauen angebetet, von der stolzen Gräfin du Châtelet geliebt wurde. Sie zog sich schön an und wollte nach dem Essen am Arm ihres Bruders in Beaulieu spazieren gehen. Um diese Stunde ergeht sich da im Monat September ganz Angoulême.
    »Oh! das ist ja die schöne Frau Séchard«, sagten einige Stimmen, als man Eva sah.
    »Ich hätte das nie von ihr gedacht«, sagte eine Frau.
    »Der Mann versteckt sich, die Frau zeigt sich«, sagte Frau Postel so laut, daß die arme Frau es hörte.
    »Oh! gehen wir nach Hause, ich hatte unrecht«, sagte Eva zu ihrem Bruder.
    Einige Minuten nach Sonnenuntergang drang von der Treppe, die nach Houmeau hinabführt, ein Lärm her, wie ihn eine Menschenansammlung hervorbringt. Lucien und seine Schwester wurden neugierig und wandten sich dahin, denn sie hörten, wie einige Menschen, die von Houmeau kamen, so untereinander sprachen, als ob irgendein Verbrechen aufgedeckt worden wäre.
    »Wahrscheinlich ist es ein Dieb, den man verhaftet hat... er ist leichenblaß«, sagte ein Vorübergehender zu den Geschwistern, als sie zu der immer größer werdenden Menge hineilten.
    Weder Lucien noch seine Schwester hatten die geringste Ahnung. Sie betrachteten die etlichen dreißig Kinder und alten Weiber, die Arbeiter, die von ihrer Werkstatt kamen, wie sie vor den Gendarmen hergingen, deren bunte Hüte aus der Hauptgruppe hervorglänzten. Diese Gruppe, der eine Menge von ungefähr hundert Menschen folgte, näherte sich wie eine Gewitterwolke.
    »Ach!« rief Eva, »mein Mann!«
    »David!« schrie Lucien.
    »Seine Frau!« flüsterte die Menge und wich zurück.
    »Was hat dich denn dazu gebracht, daß du ausgingst?« fragte Lucien.
    »Dein Brief!« antwortete David, der leichenblaß war.
    »Ich wußte es!« rief Eva und fiel ohnmächtig um.
    Lucien richtete seine Schwester auf, und zwei Männer halfen ihm, sie nach Hause zu tragen, wo Marion sie zu Bett brachte. Kolb stürzte fort, um einen Arzt zu holen. Bei der Ankunft des Doktors war Eva noch nicht wieder zu sich gekommen. Lucien mußte jetzt seiner Mutter gestehen, daß er die Schuld an Davids Verhaftung trüge, denn er konnte sich das Mißverständnis, das der falsche Brief hervorgerufen hatte, nicht erklären. Lucien empfing einen flammenden Blick seiner Mutter und sah darin ihren Fluch; er stieg in sein Zimmer hinauf und schloß sich ein.
    Wenn man den folgenden Brief liest, den Lucien in der Nacht schrieb, langsam, sich immer wieder unterbrechend, Satz für Satz einzeln hingeworfen, wird man sich eine Vorstellung von der seelischen Erschütterung machen, in der er sich befand.
    »Meine geliebte Schwester!
    Wir haben uns jetzt zum letztenmal gesehen. Mein Entschluß ist unwiderruflich. Höre: in vielen Familien gibt es einen Unheilvollen, der für seine Angehörigen wie eine Krankheit ist. So einer bin ich für Euch. Diese Bemerkung stammt nicht von mir, sondern von einem Manne, der viel von der Welt gesehen hat. Wir waren eines Abends in einem Kreis von Freunden im Rocher de Cancale zum Souper. Unter

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